Wider die Angst

■ Über die Chancen einer DDR-spezifischen Interessenpolitik

Angst scheint die einzige Errungenschaft von vierzig Jahren Realsozialismus zu sein, die einzige Mitgift für ein vereinigtes Deutschland: die Angst der Mieter vor den künftigen Hausbesitzern; die Angst der Arbeiter vor dem drohenden Konkurs ihrer Kombinatsreste; die Angst der Bauern vor einer Revision der Bodenreform; die Angst der alleinstehenden Frauen, der Sparer, der Rentner - Kataloge der Angst, endlos fortsetzbar.

Angst macht das Bild der Gesellschaft eindimensional: Was in der DDR geschieht, erscheint nur als ein Prozeß einer Katastrophe in Zeitlupe. Hinzu kommt die Angst der Übersiedler vor dem Bleiben und die Angst der Bundesbürger vor ihrem Kommen. Da ist es nur zu logisch, daß mit der Angst Politik gemacht wird. Helmut Kohl, der oberste Wahlkämpfer der CDU, in der Nebenrolle auch Bundeskanzler, kann auf eine 40jährige Erfahrung der CDU bei der Politik mit der Angst zurückgreifen. Er erneuert praktisch die Adenauersche Wahlparole: „keine Experimente“, und das in einer Zeit, in der die größten gesellschaftlichen Veränderungen seit der Nachkriegszeit anstehen. Keine Experimente heißt heute: D-Mark gegen Gesellschaftsreform der DDR. Er bringt das geringe Kunststück fertig, den Wiedervereinigungs-Furor auf den Straßen von Leipzig und anderswo in eine Flucht in den Anschluß umzusetzen. Sein Primat der Währungsunion, durchgesetzt gegen allen wirtschafts- und finanzpolitischen Sachverstand, ist nichts anderes als ein Populismus der Angst.

Hält dem die gegenwärtige DDR-Politik stand? Auf den ersten Blick kaum: die Gemeinsamkeit scheint zu sein, „Errungenschaften“ der realsozialistischen Sozialpolitik vom Mutterschutz bis zum Recht auf Arbeit zu verteidigen. Eine defensive Position, die zudem den Nachteil hat, daß „die Straße“ nicht viel von der Verteidigungsfähigkeit dieser Bastion hält. Wird also notwendigerweise der Wahlkampf der Angst mit einem Angstvotum enden?

Das muß nicht so sein. Die Inszenierungen der Demütigung, beispielhaft von der Bonner Regierung anläßlich des Modrow -Besuches vorexerziert, haben die Stimmung geändert; die Besitzgier westlicher Haus- und Grundbesitzer, ihre Arroganz und ihre kleine Politik der Angst haben außer Furcht auch Widerstand ausgelöst.

Doch nicht nur deswegen kann man hoffen, daß einer Politik der Angst kein dauerhafter Erfolg beschert ist. Auf der betrieblichen und kommunalen Ebene findet ein Organisationsprozeß statt, der der spiegelbildlichen Reproduktion der Bundesparteien in der DDR durchaus zuwiderläuft. Selbstorganisation und Macht vor Ort bildet sich und damit ein höherer Grad der politischen Zusammenarbeit der Parteien quer zu ihrer Wahlkampfformation. Die Demokratie DDR entsteht, und es zeichnen sich schon erste Interessengegensätze ab, soweit es die künftigen Verhandlungslinien bei der Frage der deutschen Einheit betrifft. Dennoch: Sind das nicht allzu schwache Strukturen gegenüber dem Sog der harten Währung?

Gegen den Anschluß aus Angst bedarf es schon einer eindeutigen Interessenlage, wenn er erfolgreich abgewehrt werden soll. Und das ist der Fall: die Lage der DDR -Bevölkerung nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus ist ja gerade durch eine einzigartige Vereinheitlichung der Interessen gekennzeichnet. Welche Macht haben denn Ex -Hausbesitzer, Ex-Grundbesitzer gegen die Mieter und Bauern eines ganzen Landes? Wer kann sie denn zu Obdachlosigkeit und Verzicht aufs Land zwingen, wenn sie sich organisieren?

Politik in der DDR muß den Kopf frei machen von der Angst; Selbstachtung, Mut und Begreifen der gemeinsamen Interessen predigen - das ist der historische Anspruch an die Wahlkämpfer in der DDR, gerade weil es ein Wahlkampf um die eigene Existenz sein wird. Mehr denn je wird von den Politikern Mut verlangt: zum Beispiel den Mut, den Leipziger Montagsläufern klarzumachen, daß ihre Wiedervereinigungs -Demonstrationen überholt sind - bis an die Grenze des Lächerlichen; Mut, der den Leuten begreiflich macht, daß sie endlich gesamtdeutsch agieren, ihre Interessen und Forderungen gegenüber Bonn artikulieren müssen. Organisiertes Mißtrauen gehört zur Demokratie. Mißtrauen gegen die Metamorphosen der SED reicht nicht mehr Mißtrauen gegen die Angst- und Beruhigungsrhetorik der Bonner Politiker ist an der Zeit. Schließlich geht es um Parität oder um eine Sperrminorität der DDR im Galopp zur Einheit.

Klaus Hartung