: Demonstranten wollen Runden Tisch in der UdSSR
Trotz einer Einschüchterungskampagne ging in vielen Städten der Sowjetunion eine Rekordzahl von Menschen auf die Straße, um für die Wahlkandidaten des „Demokratischen Blocks“ und demokratische Strukturen zu demonstrieren / Parolen gegen Gorbatschow ■ Aus Moskau Barbara Kerneck
Wenn auch eine Atmosphäre des Mißtrauens und der Angst das Meeting beherrschten, so versammelten sich am Sonntag in Moskau bei warmem Nieselregen zum zweiten Mal in diesem Monat nicht weniger als eine halbe Million Demonstranten für den „Block der demokratischen Kandidaten Rußlands“. Auch in vielen anderen Städten wurde demonstriert. Wahlen zum Obersten Sowjet der Russischen Föderativen Sowjetrepublik stehen am 4. März an.
Der zehn Fahrspuren breite Moskauer Boulevardring war zum Ende der Kundgebung gegen 15 Uhr von der Krim-Brücke bis zum Außenministerium am Smolenskij-Platz schwarz vor Menschen. Die häufigsten Losungen auf Transparenten und Pappschildern waren die Forderungen nach dem Rücktritt der sowjetischen Regierung und des Politbüros.
Aufgerufen hatten Organisationen wie die Moskauer Wählervereinigungen, die „Gesellschaft Memorial“ die „Überregionale Deputiertengruppe“ und die „Kommunisten für eine demokratische Plattform auf dem 28. Parteitag“. Viele Redner betonten, daß sich das Zentralkomitee in seiner gegenwärtigen Zusammensetzung unfähig erwiesen habe, die sowjetische Gesellschaft umzugestalten.
Der gestrige Vor-Wahlsonntag fiel gleichzeitig auf das Ende der „Butterwoche“. Im alten Rußland fanden an diesem Tag zum Abschied vom Winter Jahrmärkte statt, auf denen Vogelscheuchen verbrannt und eigens erbaute Schneefestungen erstürmt wurden. Wenn man das ZK als Festung betrachten kann, gegen die sich die Abschlußkundgebung auf dem Zubovskij-Platz richtete, so fehlte es in ihrem Vorfeld auch nicht an ideologischen „Vogelscheuchen“.
Moskau kochte schon seit Tagen über vor Gerüchten über die zu erwartenden Begleiterscheinungen dieser Demonstration, die vom „Sturm der Massen auf den Kreml“ zum Jahrestag der Februarrevolution von 1917 bis zu einer Art „Bethlehemitischem Kindermord“ reichten. Es hieß auch, die Aufnahmeabteilungen aller Krankenhäuser seien alarmiert und man habe 8.000 Soldaten des Innenministeriums eingeflogen.
Die Informationspolitik der Regierung trug nicht gerade dazu bei, die Bürger zu beruhigen. Ministerpräsident Ryschkow warnte in einer Rede am Freitag, daß man gegen „Extremisten“ hart vorgehen werde und der Ministerrat ermahnte alle „Sicherheitsorgane“, alle erdenklichen Maßnahmen zu ergreifen, um zu verhindern, daß „Extremisten und verbrecherische Elemente Massenmeetings und Demonstrationen ausnutzten, um Ausschreitungen zu provozieren“. Am Samstag abend wies schließlich im Fernsehen Erzbischhof Pitirim im Fernsehen darauf hin, daß wahre Gläubige am Ende der Butterwoche früher Einkehr geübt hätten und zu Hause geblieben seien. Auch an Drohungen „von rechts“ hatte es letzte Woche nicht gemangelt. Auf dem „Festival Russische Treffen“ in Leningrad feierten „Patrioten“ den letzten Zaren Nikolaj mit einer Schweigeminute, nachdem sie zwei Berichterstatter der Reformzeitung „Smena“ zusammengeschlagen hatten.
Die Entpolitisierung der Armee, des KGB und der Streitkräfte des Innenministeriums war demzufolge auch eine zentrale Forderung der Redner des gestrigen Meetings, das unter schwerer Bewachung durch die Polizei stattfand. Offiziellen Angaben zufolge, waren dreimal soviele Millizionäre wie bei der letzten Kundgebung am 4. Februar im Einsatz. Sie riegelten die Durchgänge vom Boulevardring zum Arbat-Viertel mit Schilden ab. Auch in den Nebenstraßen parkten Lastwagen voller Beamter in Zivilkleidung.
Eröffnet wurde die Rednerliste von dem Wirtschaftswissenschaftler Gavril Popow. Daß es der Regierung nicht gelungen sei, die Demonstration zu sprengen, sei ein Beweis für den Grad an Einigkeit und Handlungsfähigkeit, den die sowjetische Opposition inzwischen erreicht habe, meinte Popow. Wie viele andere Redner auch, betonte er die Notwendigkeit eines neuen Unionsvertrages für die Völker der Sowjetunion. Der Radikalreformer und Volksdeputierte Juri Afanassjew verlas eine Resolution, die die Menge durch Akklamation annahm. Darin wurde die Erneuerung aller demokratischen Strukturen, ein unabhängiges Rußland im Rahmen einer neuen Sowjetföderation, freie Marktwirtschaft und ein Runder Tisch gefordert.
Auf zahlreichen Transparenten wurde auch Kritik an Staats und Parteichef Michail Gorbatschow und seinem Plan laut, das Amt eines Staatspräsidenten zu schaffen, der vom Kongreß der Volksdeputierten gewählt werden solle. „Keine Diktatur Gorbatschows“ und „Das Volk wählt den Präsidenten, nicht die Marionetten“, hieß es. Viele Demonstranten trugen Bilder des im vergangenen Dezember gestorbenen Bürgerrechtlers Andrej Sacharow, andere schwenkten die vorrevolutionäre weiß-blau -rote Trikolore Rußlands.
Als einziges Mitglied der Regierung sprach Umweltminister Woronzow zu den Versammelten. Er solidarisierte sich mit ihren Forderungen und rief zum Kampf für das ökologische Überleben des Landes auf.
Identische Forderungen wurden auf Meetings und Demonstrationen im ganzen Land erhoben, so zum Beispiel in Petropavlovsk, Chabarovsk, Irkutsk, Taschkent und Kemerovo. Dagegen waren in Kursk Orjol, Dnjepopetrovsk und Rostov am Don Solidaritätsveranstaltungen verboten worden.
Nur 10.000 Menschen hatten sich in Leningrad versammelt, „alles andere als ein Erfolg“, wie die Veranstalter sagten, die die „Gerüchte und Drohungen“ der vergangenen Tage für das Ausbleiben von vielen verantwortlich machten. 'Das Demonstrationskomitee in Moskau rief dazu auf, bei einer Folgeveranstaltung in einem Monat die Bilanz aus den Wahlen zu ziehen und den Runden Tisch konkret vorzubereiten.
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