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Übersehen - verdrängt - unterschätzt

Sexueller Mißbrauch ist kein Kavaliersdelikt / Der beste Schutz gegen sexuellen Mißbrauch sind starke Kinder / Dazu braucht es Erwachsene, die den Kindern zuhören und glauben / Therapienstreit zwischen feministischem und familienzentriertem Ansatz  ■  Von Martina Burandt

Berlin (taz) - Ausmaß und Folgen des sexuellen Mißbrauchs werden immer noch unterschätzt, übersehen und verdrängt. Immer mehr Kinder wenden sich an Beratungsstellen, deren Kapazitäten sind jedoch begrenzt. Wie dringend aber qualifizierte Kräfte benötigt werden, belegt allein die Tatsache, daß mißbrauchte Kinder, die Hilfe suchen, sich im Durchschnitt sechs Erwachsenen anvertrauen, bis ihnen der siebte glaubt. Unschwer vorzustellen, daß viele Kinder gleich beim ersten Mal aufgeben. Aus einer neuen Untersuchung der Uni Amsterdam geht hervor, daß ein Viertel aller Mädchen unter 16 Jahren mißbraucht wurden. Die Täter sind meist Väter oder andere Männer aus der familiären Umgebung.

Neue Wege in Beratung und Hilfe sowie den aktuellen Forschungsstand diskutierte in der vergangenen Woche in Berlin ein Internationaler Fachkongreß. Es war der erste Kongreß, der sich speziell mit Problemen von familienzentrierten Ansätzen bei sexuellem Mißbrauch von Kindern und Jugendlichen befaßte. Veranstaltet wurde er von der Berliner Beratungsstelle „Kind im Zentrum“ (KiZ). Sieben Referentinnen, führende Fachfrauen aus Großbritannien und den USA, berichteten von ihren Erfahrungen und stellten neue Arbeitskonzepte vor. Daneben fanden zu denselben Themen eine Reihe von Workshops statt.

Sind sich ExpertInnen und TherapeutInnen auch über die Dringlichkeit eines verbesserten Schutzes sexuell mißbrauchter Mädchen und Jungen einig, streiten sie sich doch über die Methoden. Während der feministische Ansatz wie ihn beispielsweise auch „Wildwasser Berlin“ vertritt in erster Linie Kind und Mutter schützen will und nicht mit den Männern arbeitet, wird der Täter bei den sogenannten familienzentrierten Hilfsangeboten miteinbezogen. Dieser Ansatz spricht sich sogar für eine Arbeit ohne strafrechtliche Konsequenzen für den Täter aus. Demgegenüber setzen sich Feministinnen ganz besonders dafür ein, die Täter strafrechtlich zu verfolgen: unter anderem deshalb, damit „sexueller Mißbrauch“ öffentlich wahrgenommen und ernstgenommen wird. Dennoch zeigte der Beitrag von Ray Wyre, wie wichtig die therapeutische Arbeit mit dem Täter ist, zumal dieser nach Ablauf der Strafe meist wieder in die Familie zurückkehrt. Wyre plädierte dafür, „einen gesetzlichen Therapiezwang für Mißbraucher einzuführen“, wies aber auch auf die großen Schwierigkeiten hin, therapeutisch mit Männern zu arbeiten, die eigentlich gar keine Therapie wollen, sich „in Ordnung“ fühlen und ihre Tat verleugnen.

Die familienzentrierte Hilfe wird oft mit Familientherapie gleichgesetzt. Deshalb betonte „KIZ„-Berlin, daß dieser Ansatz besagt, daß die Hilfen bei sexuellem Mißbrauch flexibel und genau mit dem Helfersystem abgestimmt werden und nicht ausgrenzend sein dürfen. Sie sollen auf die Situation jedes einzelnen Familienmitglieds und auf das System der Familie als ganzes eingehen und müssen dem Einzelfall gerechtwerdende Hilfsangebote entwickeln. So kommt es bei diesem Ansatz zwar auch vor, daß man es für besser hält, Kinder zu ihrem Schutz aus der Familie herauszunehmen, die Familie an sich wird nicht in Frage gestellt, wie es der feministische Ansatz tut.

Die amerikanische Spezialistin Kee MacFarlane machte besonders eindringlich klar, wie schwierig die Therapie in den Mißbrauchfamilien ist, da diese Familien ihr überaus festes Scheinbild der heilen Familie vor der Außenwelt bis aufs Letzte verteidigen. Außerdem betonte sie, wie wenig man innerhalb der therapeutischen Arbeit auf universelle Theorien aufbauen könne, da das Ausmaß der Schädigung auf so vielen unterschiedlichen Faktoren basiere wie beispielsweise Art und Dauer des Mißbrauchs, Maß an Gewalt, ob in den Körper des Kindes eingedrungen wurde, das Verhältnis zwischen Kind und Mißbraucher und vor allem, was passiert, wenn der Mißbrauch öffentlich wird. Allein dieser letzte Faktor ist der, welcher von öffentlicher Seite her gesehen und kontrolliert werden kann und woran sich HelferInnen maßgeblich beteiligen können. Da die Kinder schon sehr früh erfahren haben, daß sie genau von den Personen am wenigsten sicher sind, die sie am meisten beschützen sollten, verlieren sie mit der Zeit immer mehr an Sicherheit - in Bezug auf ihre Umwelt und auf sich selbst. Ihr „kleines“ Geheimnis verbergen sie mit aller Kraft vor der Welt, damit diese nicht sieht, wie schlecht sie sind.

An dieser Verschlossenheit, die verbunden ist mit Wahrnehmungsstörungen und Selbstbestrafung bis zur körperlichen Selbstzerstörung, halten die Kinder fest. Es sind die Fähigkeiten, die ihnen helfen, in ihrer Welt zu überleben. Für die HelferInnen stellt sich laut MacFarlane nun die überaus schwierige und langwierige Aufgabe, diese Weltsicht der Kinder einerseits zu verstehen und zu akzeptieren, sie jedoch dazu zu bringen, dieses Verhalten abzubauen, indem den Kindern klargemacht wird, daß es sie im „normalen“ Leben behindert.

Das wichtigste bei diesem Lernprozeß ist das Erinnern. Denn erst wenn die verschütteten Gefühle wieder zugelassen werden, ergibt sich die Chance, gegenüber diesen eine Stärke aufzubauen. MacFarline: „Erst wenn die Kinder zu sprechen beginnen, bekommen sie langsam einen Rahmen für das Erlebte und sich selbst. Wir versuchen sie dann dahin zu bringen, daß sie erkennen, daß es zwar einen desillusionierenden Aspekt in ihrem Leben gab, daß die Zukunft aber auch anders aussehen kann.“ Kee MacFarlane wünscht sich für die Kinder, daß sie das Leben als dynamischen Prozeß begreifen lernen, in der es sichere wie unsichere Umstände gibt, in der man sich aber auch gegen die Umstände wehren kann. Kann man das wirklich? Therapeuten sind keine Wunderheiler, das weiß die Amerikanerin auch: „Man kann nicht verhindern, daß etwas passiert. Deshalb muß es endlich mehr Leute geben, die bereit sind, zuzuhören und zu glauben. Und die Kinder stark zu machen, ist ihr bester Schutz!“

Der Kongreß zeigte, daß sexueller Mißbrauch ein gesellschaftliches Problem ist, das weitaus komplexer ist, als allgemein angenommen wird. Es ist nicht nur ein ernstes psychologisches Problem, sondern auch ein großes Verbrechen und ein komplexes gesamtgesellschaftliches Phänomen, das mit der Verteilung der Macht zwischen den Geschlechtern zusammenhängt. Auch wenn die unterschiedlichen Therapieansätze ihre Berechtigung haben, wäre es im Sinne der direkten Hilfe sinnvoller, Polarisierungen zu vermeiden. Bei der Arbeit gegen sexuellen Mißbrauch sollte das Kind immer im Vordergrund stehen.

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