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Splitter, Fetzen und Fragmente

■ Ein Abend mit New York Music Television / Zwischen Wut, Bildersucht und Augenfolter

Wenn auf 18 Kanälen noch immer nichts Gescheites läuft, dann tut's der 19.: MTV. New York Music Television begann 1983 zu senden. Rund um die Uhr, nonstop. Macht ungefähr 50.000 Stunden Videoclip. Bisher.

Gesichter, neongrelle Sets, gut angezogene Menschen, Bewegung. Alles so ästhetisch und unbeschwert. Nette Menschen im Wohnzimmer. Plötzlich der Spot von der Lebensversicherung. Eine vollelektronisch animierte Gliederpuppe steigt in einen Fahrstuhl. Der Weg nach oben symbolisiert den Lebensverlauf des (zahlungsfähigen) Erdenbürgers. Eine warnende Stimme richtet sich an den Zuschauer, deren Sachlichkeit aus dem unverbindlichen Gezauder und Geplauder des übrigen Programms bedrohlich ernüchternd heraussticht.

Das Interview mit Rund DMC, die die Musik zu Ghostbusters II gemacht haben, läuft weiter. Als ob man dem Zuschauer nicht mal ein paar Minuten am Stück zutrauen dürfte. Umschalten! Umschalten! Splitter, Fetzen, Fragmente, auf irgendeine seltsame Art zu einem Ganzen versponnen. Es gibt nichts, was man da nicht sehen könnte. Schwarzweißeinblendungen, Zeichentricksequenzen, kubistisches Formengestöber, als wären alle Kunstrichtungen zu einer Pizza vermengt.

Plötzlich wache ich auf und weiß nicht mehr, was ich zuletzt sagen wollte. - Was habe ich gesagt? - Du hast nichts gesagt. Sagt Michael. Wir sitzen vor dem Apparat und starren halb gelangweilt, halb routiniert auf die Mattscheibe.

Meine Aufmerksamkeit wird mit allen Mitteln absorbiert, umworben und hofiert wie ein fürstlicher Gast im Barock. Ich versinke in seichten Schlummer. Eigentlich ganz angenehm. Zeit vergeht... Plötzlich habe ich das Gefühl, Wichtigeres tun zu müssen. Wieder schrecke ich hoch. Es ist wie das Erwachen aus einem Traum, in dem der Träumer plötzlich zu wissen glaubt, daß er träumt und darüber aufwacht. Obwohl die Funktion des Traums der Schutz des Schlafs ist (so wie ein guter Spielfilm die Fortdauer der Fiktion und damit der Unterhaltung sichert), zieht der Träumer hier die kalte Dusche des Erwachens vor, weil er instinktiv merkt, daß ihn Fürchterliches erwartet, wenn er hier weiterträumen würde.

Weiter mit Reden. Ich verstehe das Amerikanische nicht so ganz. Deswegen erscheint es mir rätselhaft, warum der Run (von Run DMC) plötzlich die Ladeklappe seines Jeeps vorführt. Es wird gesprochen.

Jede Stunde gibt es Nachrichten, was so viel bedeutet wie Klatsch und Tratsch. Ein blasierter Typ quatscht mit Koks-Lächeln über Boy George und David Bowie. Kann man hinterher in 'Tempo‘ nachlesen.

„Do you really want to hurt me?“ - Ja, ich würde am liebsten den Kasten eintreten. Angenehmer Ekel. Zeitweise sitze ich vor dem Apparat wie ein Neandertaler im Taxi. Louis Lane (Supermans Emma Peel) liegt konvulsisch zuckend mit durchsichtigem Tüllrock und Wespentaille im verwehenden Seidenbett und singt vom ersten Mal (was man so Singen nennt). Sie schläft. Sie küßt das goldblinkende Saxophon eines Farbigen. Ihre Haare sind naß, meine Kehle ist trocken.

Bei Madonna (besser gesagt bei den organisierten Lichtreflexen, die in den Klatschspalten den Namen Madonna führen) beginnt meine stilisierte, intellektuelle Distanz schließlich zu bröckeln. Ich werde schwach.

Ein paar (offen)sichtlich barbusige Damen tanzen hinter nachtschwarzen Zensurstreifen: Es ist noch vor Mitternacht. Sauereien erst nach Geisterstunde. Es folgt das Video von Love and Rockets. Langstielige Beinpaare, die von Lehmbruck stammen könnten, zittern vorbei. Kein Bild, das nicht irgendwie verfremdet wäre. Alle singen von besseren Zeiten. Knatterchargen. Bis auf die Schwarzen. Die signalisieren: Wir meinen das ernst mit unserer Befreiung. Coole Rapper. Haben was Politisches zu erledigen. Auch Spike Lee blickt ernst in die Kameras. Impact.

Jetzt wieder die Lebensversicherung. Und der nächste Song: Good Feeling. Mir fällt auf, daß es in den Clips von Buchstaben, Symbolen und Schriftzügen wimmelt, die aus allen Ecken und Richtungen vorbeiziehen. Unter dem rieselnden Musikteppich herrscht Lektürenzwang. Jede Geste ein Buchstabe. Gesten und Blicke. Sie tanzen Worte: Good Feeling. Frauen blicken in die Kamera. Gut aussehende Frauen. Close up, schmelz down. Unmittelbar darauf die Braun -Reklame: „Se jang Schenerehschn follos its ohn Lain.“

Ein Programm für Switcher, jene TV-Glotzer, die ständig umschalten müssen. Ein Zwang. Aber eigentlich ist selbst der Switcher bei MTV überflüssig, denn das Programm besteht selbst nur noch aus Schnitten und weniger aus beobachtbaren Sequenzen. Flüchtig vorbeiflackernde Motive, die im Grunde so belanglos sind, daß nur ihr Verschwinden, ihr permanenter Wechsel eine Spur in der Wahrnehmung hinterläßt. - Aber was hat man am Ende tatsächlich gesehen? Es ist wie mit der Zigarettenreklame. Großflächige Plakate sollen Aufmerksamkeit erregen. Es gibt jedoch so viele davon, daß sie gar nicht mehr auffallen. Plakate bewirken keinen direkten Kaufwunsch. Aber umgekehrt würde sich ihr Fehlen doch im schwindenden Absatz bemerkbar machen. Die Logik der Platzhalterkultur.

Im gleißenden Bilderfriedhof rhythmisch zuckender Videoclips wird Information zum Anachronismus. MTV ist der Vorbote einer Generation von Fernsehprogrammen, die die private Wohnstube zur Litfaßsäule machen. Im Gegensatz zur herkömmlichen Information, der Übermittlung diskreter Daten und Symbolzusammenhänge, findet hier keine Verarbeitung mehr statt. An ihre Stelle tritt die organisierte Reizüberflutung, ein Phänomen aus dem Register des Drogenkonsums. Formen und Farbe im Dauerstakkato; Bilder wie Peitschenhiebe.

„Es gibt sogar Fälle, wo eine Art Lust bedingt ist durch eine gewisse rhythmische Abfolge kleiner Unlust-Reize“, schrieb Nietzsche in seiner Genealogie der Moral. Er dachte hier bestimmt nicht ans Fernsehen, aber seine Beobachtung trifft den Kern des Konsumverhaltens angesichts reiner Unterhaltungsprogramme. MTV funktioniert, überspitzt formuliert, mit der Monotonie einer Verabreichung winzig dosierter Quanten von Enttäuschung, von Unlust. MTV ist Zerstreuungsmonotonie, (end-)kultivierte, zivile Augenfolter für Opto-Masochisten.

Manfred Riepe

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