: Aschermittwoch in Deutschland
Die Einheit und das Wetter ■ G A S T K O M M E N T A R E
War es nicht eine närrische, eine fröhliche Zeit, diese Wiedervereinigung der Getrennten. Haben wir nicht allen Grund zur Freude? Wird uns nicht tagtäglich auf allen Kanälen was vorgelächelt? Aber wir lachen nicht mehr. Warum lachen wir nicht mehr?
Die Angst vor den finanziellen Kosten der Einheit ist es sicher nicht alleine. Daß keine rechte Freude aufkommt, daß hier bei uns kaum noch jemand höflich lächelt über die Euphorie der Vereinigung, hat andere, tiefere Gründe:
Die Bewunderung der BRD durch die DDR-Bevölkerung ist zu einer unerträglichen Belastung geworden. Plötzlich haben wir die beste Wirtschaft, das beste Sozialsystem, die beste Verfassung. Was uns so unangenehm wird, ist mit einem Mal in der besten aller möglichen Welten leben zu müssen. Alle kleinen und großen Hoffnungen werden uns ins Maul zurückgestopft. Nicht der Zusammenbruch jedweden Sozialismus, sondern der Zwang, selbst Höhe- und Endpunkt der Geschichte zu werden, hat die deutsch-deutsche Vereinigung zum größten Hoffnungsvertilger seit Kriegsende gemacht.
Zu einer Art nervöser Depression des Siegers steigert sich dieses Gefühl, indem uns gleichzeitig unmißverständlich vor Augen geführt wird, wie katastrophal die Folgen unseres Wunderlandes eigentlich sind. Während nämlich der künstliche Karneval der Vereinigung gefeiert wurde, tobte draußen gleich vier Mal der Orkan durch Europa.
Die Klimakatastrophe klopfte laut an die Tür, doch die veröffentlichte Meinung hatte keinen Platz für dieses Tschernobyl im Zeitraffer. Alle reden von Deutschland, alle denken ans Wetter. Dieses gleichzeitige Dauergeschwätz über die Schönheit der Einheit und dieses hartnäckige Schweigen über eine Umweltzukunft, die mit immer höherem Tempo auf uns zurast, hat uns Westdeutschen den Nerv geraubt und dauerhaft in Aschermittwochsstimmung versetzt. Den tapferen Trotz, den die Jecken am Rhein gegen den Orkan und seine tiefere Bedeutung aufbringen konnten, der hat nur rosenmontags eine Chance.
Lange wird es nicht mehr dauern können und dürfen, bis sich diese deutsche Gesellschaft der einfachen Tatsache zuwendet, daß sie im Grunde nur noch ein Problem hat - die Ökologie; und nur noch eine Hoffnung - die Ökologie.
Bernd Ulrich Der Autor ist wissenschaftlicher Mitarbeiter be
der Bundestagsfraktion der Grünen
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