: Über wohlmeinenden Rassismus
■ „Was kann denn dieser Mohr dafür, daß er so weiß nicht ist wie ihr?“
Burkhard Müller
Es ging spazieren vor dem Tor
Ein kohlpechrabenschwarzer Mohr.
Die Sonne schien ihm aufs Gehirn,
Da nahm er seinen Sonnenschirm.
Da kam der Ludwig hergerannt
Und trug ein Fähnchen in der Hand.
Der Kaspar kam mit schnellem Schritt
Und brachte seine Brezel mit.
Und auch der Wilhelm war nicht steif
Und brachte seinen runden Reif.
Die schrien und lachten alle drei,
Als dort das Mohrchen ging vorbei,
weil es so schwarz wie Tinte sei!
Da kam der große Nikolas
Mit seinem großen Tintenfaß.
Der sprach: „Ihr Kinder, hört mir zu
Und laßt den Mohren hübsch in Ruh!
Was kann denn dieser Mohr dafür,
Daß er so weiß nicht ist wie ihr?“
Die Buben aber folgten nicht
Und lachten ihm ins Angesicht
Und lachten ärger als zuvor
Über den armen, schwarzen Mohr.
Der Niklas wurde bös und wild,
Du siehst es hier in diesem Bild!
Er packte gleich die Buben fest,
Beim Arm, beim Kopf, bei Rock und West,
Den Wilhelm und den Ludewig,
Den Kaspar auch, der wehrte sich.
Er tunkt sie in die Tinte tief,
Wie auch der Kaspar „Feuer“ rief.
Bis übern Kopf ins Tintenfaß
Tunkt sie der große Nikolas.
Du siehst sie hier,
Wie schwarz sie sind,
Viel schwärzer als das Mohrenkind.
Der Mohr voraus im Sonnenschein,
Die Tintenbuben hinterdrein;
Und hätten sie nicht so gelacht,
Hätt Niklas sie nicht schwarz gemacht. (Aus H.Hoffmanns Struwwelpeter
Offener Rassismus ist heute verpönt, Aufforderung zum Rassenhaß sogar strafbar. Verbreitet ist dagegen wohlmeinender Rassismus, der Weltbürgertoleranz im Bewußtsein und Diskriminierung in der Praxis miteinander verknüpft. Ich rechne dazu auch alle Versuche, durch Selbstüberprüfung im Inneren hundertprozentig rassismusfrei zu werden, also alle negativen Gefühle, die mit der Erfahrung an fremdem Leben und fremder Kultur verbunden sein können, zu bekämpfen und dies natürlich auch von anderen zu verlangen.
Ein Beispiel für diesen Typ des wohlmeinenden Rassismus oder auch des moralisierenden Antirassismus, was für mich so ziemlich auf dasselbe hinausläuft - bietet folgende Anzeige, die von der „Aktion Toleranz im Alltag“ der Friedrich -Naumann-Stiftung verbreitet wird. Schlagzeile ist das Zitat aus dem Struwwelpeter: „Was kann denn dieser Mohr dafür.“ Der Text geht weiter: „Wer kann sie nicht ergänzen, diese Zeile aus Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter. Haben wir sie auch beherzigt? Über die Kindheit hinaus? Ist uns der, der anders ist - von anderer Hautfarbe, mit anderem Glauben und anderen Gewohnheiten - nicht doch weniger wert als der, der lebt, denkt und glaubt wie wir?“ Aufklärung und Erziehung
Ich nehme an, daß mir viele sicher nicht zustimmen werden, dies als, wenn auch wohlwollende, Variante des Rassismus zu bezeichnen. Und ich selbst möchte den Einwand machen, ob da nicht ein Selbstwiderspruch meiner These dahintersteckt, moralischer Antirassismus könne auch eine Form von Rassismus sein. Denn wenn auch dies, obwohl ungewollt, Rassismus ist, dann steckt ja darin erst recht eine Aufforderung, uns selbst ganz genau zu untersuchen, ob wir nicht doch in irgendeiner Falte unserer Seele noch so etwas wie Rassismus in uns tragen. Aber genau dieser Perfektionismus hat vielleicht auch etwas Rassistisches.
Ich versuche mich aus diesem Dilemma durch eine weitere, vielleicht ebenso unakzeptable These zu retten. Ich behaupte, es ist sinnlos, gegen wohlwollenden Rassismus durch Aufklärung oder Erziehung irgendwelcher Art anzugehen. Ich meine damit genauer gesagt:
1. Es ist nicht sinnlos, offen rassistischen oder ausländerfeindlichen Äußerungen durch Widerspruch, Aufklärung und Erziehung entgegenzutreten.
2. Es ist aber sinnlos, den gutgemeinten Äußerungen, wie sie von der Friedrich-Naumann-Stiftung kommen, unterschwelligen Rassismus vorzuwerfen. Mit dem Begriff des „wohlwollenden Rassismus“ meine ich nicht dasselbe wie „unterschwelligen Rassismus“. Wäre mit wohlwollend dasselbe wie mit unterschwellig rassistisch gemeint, so müßten wir unterstellen, daß die subjektive Überzeugung der meisten unserer MitbürgerInnen, der regierenden eingeschlossen, nicht rassistisch zu denken oder zu handeln, eine Selbsttäuschung sei.
Daß also das selbstgeglaubte eigene Wohlwollen gegen Menschen anderer Kultur und Hautfarbe nur die Oberfläche bilde, während im Unterbewußtsein der Rassenhaß sein mehr oder weniger gut verdecktes Unwesen treibe. Das ist eine ziemlich entscheidende Frage, ob wir von dieser Annahme ausgehen müssen. Denn wir reden ja vom verbreiteten Rassismus in unserer Gesellschaft, obwohl nur eine verschwindende Minderheit in ihr - und das ist sicher ein Unterschied zu früher - bewußt rassistische Positionen vertritt. Aber selbst unterstellt, sehr viele Menschen seien gleichwohl von Rassismen durchdrungen, die unterhalb ihrer eigenen Bewußtseinsschwelle wirken, so scheint es mir trotzdem sinnlos, dagegen aufklärend oder erzieherisch anzugehen. Aus zwei Gründen:
-Es ist praktisch nicht durchführbar. Es wäre dann nötig, alle diese Leute gleichsam einer Therapie zu unterziehen, um die Widerstände, die die Einsicht in ihren eigenen Rassismus blockieren, beiseite zu räumen und zu verhindern, daß sich dieser Rassismus nicht in immer neuen Tarnungsformen versteckt.
-Es ist auch moralisch nicht vertretbar, denn wenn die Menschen nicht bereit sind, sich solch einer antirassistischen Therapie freiwillig zu unterziehen, so läuft das Ganze auf Denunziantentum und Gesinnungsschnüffelei hinaus, die durch fortschrittliche Intentionen nicht besser werden.
Was für einen Sinn hat es aber dann, von wohlwollendem Rassismus zu reden? Ist es dann nicht konsequenter, alle Menschen, die sich subjektiv nicht als Feinde anderer Rassen verstehen, auch tatsächlich vom Vorwurf des Rassismus freizusprechen? Ist der deutsche Spießer, den Gerhard Polt mit anerkennendem Ton sagen läßt: „Die Asiatin an und für sich schmutzt nicht“, dann kein Rassist mehr? Doch, er ist es. Ich denke aber, es handelt sich um eine spezifische Art von Rassismus, die nichts mit unbewußter Angst oder unbewußtem Haß gegen fremde Rassen zu tun hat, sondern die schlicht Folge der rechtlichen und sonstigen Unterprivilegierung derjenigen Menschen ist, die Objekte und Opfer dieses wohlmeinenden Rassismus werden. Ein geistiger Marshallplan
Der Rassismus besteht nur darin, dieser Realität kritiklos und/oder praktisch zu entsprechen. Unbewußten Haß braucht man dafür nicht zu unterstellen.
Ein Beispiel lieferte kürzlich Rita Süssmuth. Sie lobte beim Besuch polnischer Solidarnosc-Vertreter die unsägliche JournalistInnenvokabel, es müsse „ein geistiger Marshallplan“ für Polen aufgestellt werden, wozu sie erläuterte, daß die Polen nicht vor allem Geld, sondern Unterricht in Demokratie haben müßten und dies von uns erwarteten, da wir schon so lange Erfahrungen damit haben. Wie ist das zu verstehen? Ist das die Fortsetzung des alten deutschen Überlegenheitsdünkels gegenüber den zurückgebliebenen Polacken? Es klingt zumindest so.
Müssen wir dann Rita Süssmuth unterschwelligen Rassismus vorwerfen? Mir kommt das sinnlos vor. Keineswegs sinnlos aber scheint mir, darüber zu erschrecken, daß eine sonst integre konservative Politikerin wie Süssmuth so rasant Teil einer Machtverwaltung werden kann, welcher die Tatsache kein Problem mehr ist, daß ausgerechnet wir fett auf der Gewinnerseite der Kriegs- und Nachkriegsfolgen sitzen und ausgerechnet die PolInnen auf der Verliererseite sitzen; sondern die von dieser Tatsache einfach unbeschwert ausgeht.
Hoffmanns böse Buben entsprechen etwa unsere Jugendlichen, die Türkenwitze erzählen und Ausländer-raus-Parolen an die Wände schmieren; sie entsprechen auch den deutschen BewohnerInnen schlechter Wohngegenden, denen, wie sie sagen, zuhauf TürkInnen und AsylbewerberInnen und AussiedlerInnen vor die Nase gesetzt werden, eben weil es dort am billigsten ist, und die sich dann empören, daß es in ihrem Viertel zugehe wie in Anatolien oder im Busch. Wie gesagt, ich meine jetzt nicht den Kern von Rassisten und Nazis, die es dort wie anderswo auch gibt, sondern ich rede von unterprivilegierten BürgerInnen und Jugendlichen, die nicht verstehen können, warum sie nicht wenigstens ein bißchen etwas Besseres sein dürfen als diejenigen, die nach allgemeiner Praxis und geltender Rechtslage als das Unterste in unserer Gesellschaft behandelt werden - AsylbewerberInnen und andere AusländerInnen ohne gesicherten Rechtsstatus zumal wenn sie aus Ländern der Dritten Welt kommen.
Die Rolle des Nikolaus dagegen haben wir alle, die sich darüber empören, daß solche Parolen unsere Brücken und Bahnhofspassagen verunzieren und sich dafür schämen, daß es unreife Jungen und heruntergekommene erwachsene Deutsche gibt, denen es selber kaum besser geht und die doch was Besseres sein wollen. Die Rolle des Niklas spielen auch diejenigen, die meinen, wenn nur ordentlich gegen Rassismus gewettert werde, dann sei damit den Republikanern die Stirn geboten und ebenso den anderen, die auf den Problemen der multikulturellen Gesellschaft ihr braunes Süppchen kochen. Toleranz im Alltag
Diese Art von Kampf gegen Rassismus, wie ihn zum Beispiel die oben zitierte Aktion „Toleranz im Alltag“ vertritt, scheint mir ganz und gar sinnlos. Bestenfalls bewirkt sie gar nichts und schlimmerenfalls wird sie selbst zu so etwas wie „wohlwollendem Rassismus“, sofern sie die Illusion verbreitet, es sei ohne ein Ende der rechtlichen Diskriminierung möglich, gegen ihre notwendige Folge im Bewußtsein der Menschen anzukämpfen.
Man kann dagegen sagen, die Alternative sei falsch. Kampf gegen rechtliche Diskriminierung, für gesicherte Aufenthaltsrechte von Flüchtlingen, für Arbeitserlaubnis, für kommunales Wahlrecht sei wichtig. Aber eben der verbreitete latente Rassismus der deutschen Bevölkerung sei das entscheidende Hindernis dafür, daß eine Verbesserung der Rechtslage von AusländerInnen bei uns mehrheitsfähig werden könne. Ich denke, es ist umgekehrt. Solange sich auf der rechtlichen Ebene nichts ändert, wird sich auf der Bewußtseinsebene nichts ändern. Und deshalb ist die Frage nach den Rechten auch die entscheidende Frage jeder antirassistischen Aufklärungsstrategie.
Ich glaube auch nicht, daß der Angelpunkt des Rassismusproblems die negativen Gefühle oder abfälligen Äußerungen sind, die gegen AusländerInnen, gegen fremde Sitten, gegen die Vermischung der Kulturen etc. gerichtet sind, und auch nicht, daß manche Leute betonen müssen, daß sie stolz sind, Deutsche zu sein. All das hat mit Rassismus zuerst einmal nichts zu tun, sondern ist normal, und es muß Streit darüber möglich sein. Das heißt solchen Meinungen kann und muß unter Umständen scharf widersprochen werden. Aber ich bin gegen ihre moralische Diffamierung. Das gilt selbst für sogenannte Neonazis.
Gerade in Deutschland, wo das allgemeine Bedürfnis nach Harmonie der Meinungen so ungeheuer ist, scheint mir das zu betonen wichtig. Aber es istnicht normal, sondern ein Skandal, daß es einfach so hingenommen wird, wenn Menschen bei uns nur deshalb keine Erlaubnis zu arbeiten bekommen, weil sie nicht anerkannte AsylbewerberInnen sind. Und das kann man selbst einem Republikaner klarmachen. Es ist ein Skandal, daß kein Sturm der Entrüstung losbricht, wenn Familien von Niedersachsen nach Bayern zwangsverschoben werden, nur weil irgendwelche BürokratInnen sie dorthin eingeteilt haben; kurz: wenn Menschen bei uns elementare Rechte vorenthalten bekommen. Daß so wenig Empfindung dafür da ist, daß unser Gemeinwesen sich selbst erniedrigt, sich als Demokratie diskreditiert, weil es duldet, daß es in seiner Mitte BürgerInnen erster und zweiter Klasse gibt, das ist der eigentliche Skandal. Und in diesem Punkt gibt es zwischen aggressivem und wohlwollendem Rassismus keinen Unterschied. Rassismus ist Herrschaft
Nach diesem Verständnis ist Rassismus im Kern überhaupt nicht als etwas Psychisches zu verstehen, sei es als eine Form von Vorurteil, sei es als unbewußte Ablehnung fremder Rassen. Rassismus ist vielmehr eine spezifische Form von Herrschaftsausübung, die allerdings auch in den Köpfen und psychischen Strukturen der Menschen ihren Niederschlag findet, aber dort nicht ihren Ursprung hat. Rassismus, gerade auch in der Variante des „wohlwollenden Rassismus“, ist eine Herrschaftsform, die gleichzeitig sehr unterschiedliche Ebenen zusammenwirken läßt: ökonomische Gesetzmäßigkeiten, rechtliche Diskriminierung, Diskriminierung im Bewußtsein und im Gefühl - und wenn alles andere nicht mehr hilft, dann auch Unterdrückung durch physische Gewalt, Folter, militärische Intervention usw. Rassismus ist die Aufteilung einer Gesellschaft in Menschen erster und zweiter Klasse, mit welchen Mitteln immer diese Aufteilung praktisch durchgesetzt wird und unabhängig davon, ob es dafür gute Gründe gibt oder nicht. Soweit aber Rassismus eine Sache des Bewußtseins ist und Bewußtseinsveränderung beziehungsweise Aufklärung die Aufgabe ist, scheint es mir letztlich nur eine sinnvolle Strategie zu geben: an das Rechtsbewußtsein zu appellieren und es zu entwickeln suchen im Sinne des schlichten Satzes: „Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg‘ auch keinem andern zu.“ Das ist übrigens ein Satz, den der „große Nikolaus“ nicht kapiert hat und auch niemand seinesgleichen je kapieren wird.
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