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Müdigkeit bei den Wahlen zur Plappermühle

■ In der Russischen Föderativen Sowjetrepublik, in der Ukraine und in Weißrußland finden am Sonntag Wahlen für die Obersten Sowjets dieser Republiken statt / Wahlsystem ist auch in Rußland verbessert worden, doch gibt es immer noch die undemokratischen Wahlkomitees

Aus Moskau Barbara Kerneck

Ihrer politischen Bedeutung nach lassen sich die Wahlen, die am Sonntag in der Russischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR), in der Ukraine und in Weißrußland abgehalten werden, mit den vor einem Jahr abgehaltenen Wahlen zum Kongreß der Volksdeputierten vergleichen. Diesmal geht es um die Deputierten für die Obersten Sowjets und Stadtverwaltungen der drei Republiken. Anders als vor einem Jahr, ist für alle Sitze ein Wettbewerb zwischen durchschnittlich sechs Bewerbern gesichert. Doch der Spaß am Wählen, der noch vor einem Jahr die Moskauer Wähler begeisterte, ist heute vorbei. Es fehlen heute die bunten, selbstgebastelten Plakate in der U-Bahn, und es gibt auch keine heißen Saalschlachten um umstrittene Kandidaturen mehr. Die Russen haben inzwischen gemerkt, daß ein Parlament die Initiativen seiner Wähler nicht nur umsetzt, sondern auch bremst. Der Oberste Sowjet der UdSSR wird hierzulande gern als „Plappermühle“ beschimpft. „Wir beobachten Wahlmüdigkeit vor allem bei den Arbeitern und bei der Jugend“, erklärt der Vorsitzende einer der mächtigen Moskauer „Wählervereinigungen“: „Wir hoffen trotzdem etwa 80 Prozent der Hauptstädter auf die Beine zu bringen, denn man darf nicht vergessen, daß die neue Atmosphäre in diesem Jahr noch ganz andere Gründe hat: das Wahlgesetz wurde geändert.“ Wählerversammlungen in den Bezirken dürfen nicht mehr über die Zulässigkeit von Kandidaturen abstimmten. Auch die Delegation von Abgeordneten durch gesellschaftliche Organisationen, wie die der KPdSU und dem Komsomol direkt in das Parlament, die letztes Jahr die Gemüter erregte, ist abgeschafft.

Und was blieb beim alten? Noch immer entscheiden „Wahlkomitees“ in den Bezirken über die Zulassung der dortigen Kandidaten. „Das ist idiotisch“, beklagt sich der Moskauer Wählervertreter: „Mancherorts fordern diese Komitees Charakteristiken der Kandidaten von deren Arbeitsstelle an, anderenorts müssen die Kandidaten eine Autobiographie einreichen.“ Die Hinweise auf die Wahllokale und Kandidatenlisten wurden zwar erst vor einer Woche ausgehängt, aber die meisten sind damit zufrieden. Lange Wahlkämpfe will keiner mehr.

So kommt es, daß erst seit Freitag die Werbezettel der drei Gruppierungen aus den Briefkästen quellen, die in der Hauptstadt gegeneinander antreten: die der KPdSU, des „Blocks Demokratisches Rußland“ und der „Nationalpatrioten“, wobei hinter letzteren chauvinistische Organisationen wie „Pamjat“ und „Vereinigte Front der Werktätigen“ stehen. Daß 86 Prozent der Kandidaten in der RSFSR der Kommunistischen Partei angehören, bedeutet noch lange nicht, daß sie sich auch für diese aufstellen lassen. Viele KPdSU-Mitglieder sind dem „Block Demokratischer Kandidaten Rußlands“ beigetreten, zu dem sich Organisationen wie die „Demokratische Plattform in der KPdSU“, die „Überregionale Deputiertengruppe“ und die Gesellschaft „Memorial“ zusammengeschlossen haben. Sie werben für ein Mehrparteiensystem und den Übergang zur Marktwirtschaft. Auch die „Russische Volksfront“ unterstützt den „Block“. „Mir wird Angst um meine tatarischen, armenischen und jüdischen Schüler, wenn ich bedenke, wie wenig Sie sich von russisch-nationalistischen Äußerungen distanzieren“, ruft die Schulrektorin Natalja Vladimirovna Kulkova auf einem Treffen vor Vertretern des „Blocks Demokratischer Kandidaten Rußlands“ in einem Kulturhaus des Bezirks „Moskvoretschie“ am Mittwoch abend aus. Außer Frau Kulkova hat der Block noch vier weitere Kandidaten in diesem Bezirk aufgestellt. Der Abend beginnt, wie alle Wahlveranstaltungen mit dem lärmenden Einbruch eines Grüppchens von „Nationalpatrioten“ in den Saal. Nachdem diese erfolgreich abgewehrt worden sind, reichen die etwa vierhundert anwesenden Bürger Fragen auf das Podium. Die Mehrheit steht ganz unter dem Eindruck der Debatte um das Amt eines Präsidenten der UdSSR und der geplanten Wahl Gorbatschows durch den Kongreß der Volksdeputierten. „Laßt uns eine Resolution verabschieden, daß wir nur dann für einen Präsidenten sind, wenn er direkt vom Volk gewählt wird!“ schlägt der populäre Abgeordnete des Obersten Sowjet Zaslawski vor, der den „Demokratischen Block“ unterstützt. Alle Hände fliegen hoch, doch nein, eine alte Frau, wie eine Matrjoschka in Tücher gehüllt, rührt sich nicht. Ist sie anderer Meinung? „Ich bin zu aufgeregt“, flüstert sie. „Sie wollten doch die Macht dem Volk geben, und nun soll sie der Kongreß der Volksdeputierten bekommen. Aber wir sind das Volk!“.

Bis zu 5 Wahlzettel mit durchschnittlich über 50 Familiennamen müssen die Wähler am Sonntag ausfüllen. Ein Bewerber gilt nur als gewählt, wenn er mindestens die Hälfte der Stimmen erhalten hat. Unter dieser Bedingung ist sicher, daß in mindestens der Hälfte aller Wahlkreise am 18. März eine erneute Stichwahl angesetzt werden muß. In hunderten von Fällen werden nichtzugelassene Kandidaten die Wahlen anfechten. Unter ihnen sind 400 Mitglieder der jungen „Vereinigung Sozialistischer Gewerkschaften“. Sie wurden mit dem Argument abgewiesen, diese Organisation sei nicht nach demokratischen Prinzipien aufgebaut. Nach zahlreichen Kriterien der Rechtsstaatlichkeit müßten sie mit ihrer Wahlanfechtung Erfolg haben - eine derartige Auslegung des Wahlgesetzes steht nur dem Obersten Sowjet zu, und nicht einzelnen Beamten.

Der Weg bis zur Entsendung des einzelnen Deputierten wird also steinig, doch angesichts des Umstandes, daß die jetzige, nicht frei gewählte Legislative der UdSSR insgesamt noch weitere vier Jahre schaltet und waltet, erfüllen die Wahlen zu den lokalen Parlamenten eine Schlüsselfunktion. So schreibt ein Leser in der Zeitung 'Moskovskij Komsomolez‘: „Die Märzwahlen sind vielleicht unsere letzte Chance, das Machtvakuum von unten zu füllen und 'von unten‘ Ämter der Exekutive zu besetzen, vielleicht der letzte mögliche Schritt in Richtung auf einen neuen Staat.“

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