: DÜRFTIG IN DICHTER ZEIT
■ „Nachdenken über Deutschland“ in der Akademie der Künste, West
Es ist nichts Kleines gescheitert“, sagte Wolfgang Kohlhaase, DDR, und meinte nicht, was Sie jetzt vielleicht denken: das Podium vom Sonntagabend nämlich, auf dem er selber saß. Es ging in der Akademie der Künste natürlich wieder mal um Rechenaufgaben; und es ist, in diesen unseren Zeiten hier und heute, ja auch nicht verkehrt, sich zum hundertersten Mal an einen rechteckigen Langtisch Publikumsseite offen - zu setzen, um über Einsamkeit oder Zweisamkeit zu plaudern: „Zwei deutsche Staaten - eine gemeinsame Geschichte, Kultur, Verantwortung?“
Groß war die Veranstaltung schon deshalb, weil die Kleinen fehlten. Frauen gab es nämlich oben am Tisch nicht, was kultivierten Herren inzwischen sogar eine Erläuterung wert ist. Und die gab Walter Jens, „herrschaftsfreier“ Moderator der Diskussion, denn auch höflich bedauernd. Man habe die Frauen sogar zur Leitung vorgesehen - eine aus Ost, eine aus West. Sie waren aber leider privat verhindert. Und man weiß ja, daß es in beiden Deutschländern genau je eine Frau gibt: Christa Wolf beziehungsweise Carola Stern. Im Gegensatz zu den vielen Männern, aus denen man so reichlich aussuchen kann, daß selbst auf der hundertzweiten Podiumsrunde immer wieder neue Kombinationen passieren. So saßen denn, obwohl einer als krank entschuldigt war (Hans Mayer), immer noch sechs Männer da - Walter Jens, Volker Braun, Peter Härtling, Christoph Hein, Wolfgang Kohlhaase, Egon Monk -, die wiederum am dringlichsten einen abwesenden, den achten, beklagten: „Es fehlt uns gerade jetzt wieder niemand mehr als Heinrich Böll.“
Es ist in der Tat nichts Kleines gescheitert. Da hatte Kohlhaase recht. Und mittlerweile ist es offenbar schon ein Zeichen verwegenen Widerspruchsgeistes, wenn einer, der einzige der sechs, gegen das neue Supertabu „vom Sozialismus spricht man nicht mehr“ verstößt und einfach nochmal beschreibt, daß der ein Versuch war, „etwas Vernünftiges zu tun, nämlich die Produktionsmittel gemeinsam zu besitzen“. Die Ursachen für dessen „grundsätzliches Scheitern“ interessierten schon keinen so recht mehr. Und man ist ja auch froh, wenn angesichts der „Inflation der schnellen Antworten“ (Kohlhaase) die Männerreihe sich nicht als Fernsehgericht mißverstand. Oder gar den eigenen Auftritt für antiken Sehergesang hielt: Wir Intellektuellen wissen, was geschehen ist, und wie es dazu kam. Aber auf uns hört ja keiner. Schon gar nicht das blöde Volk!
Einen Grundfinder für das Entzweiungsunglück gab es allerdings doch; der verlegte denselben aber in so weite historische Ferne - „seit dem Mord an Bucharin waren die Chancen vertan“ (Hein) -, daß alles nähere Später quasi exkulpiert beziehungsweise sowieso uninteressant, da disqualifiziert war.
Dafür ließen es sich alle um so angelegener sein, wie man denn nun die Gemeinsamkeit hinkriege. Der Ostler Braun hat dabei den westlichen Vertriebenensatz als östlichen Kulturmangelsatz umgedacht: „Man fühlte sich um ein Ganzes betrogen“ in den letzten 40 Jahren. Und dieses erhoffte Ganze hat denn auch, wenn Dichter denken, seinen literarischen Ort in der Geschichte: „die erträumte Republik Hegels und auch Hölderlins“, die nie realisiert worden sei (Härtling). Aber...
...Vielleicht wird es, wenn wir uns jetzt Mühe geben, doch noch mal in Wirklichkeit so schön, wie dazumal von Goethen phantasmagoriert. In dessen „Werther“ nämlich, so erzählte Anke Martiny in ihrem einleitenden Festkurzredeauftritt und gab damit den Einstimmton vor, rufen Werther und Lotte nach einem gemeinsam erlebten Unwetter einander wie aus einem Munde „Klopstock“ zu. Und das waren die eineindeutigen Verständigungschiffres für das Einssein von Natur, Kultur, Nation, Geschichte und Geschlecht.
Heute würde Klopstock als Paßwort vielleicht nicht mehr so recht funktionieren, deutete Frau Senatorin an; aber sie und alle Herren Kulturträger kannten schon das neue Heilige Wort. Und das heißt „Demokratie“ - mit kleinen Himmelsrichtungsvariationen. Die Westler sagen gerne noch eine klammunauffällige Silbe vorweg: Sozial-Demokratie oder wahlweise soziales, demokratisches Gefüge. Und die Ostler, die offenbar die Nase voll von Politik haben, verlegen die Demokratie lieber in die organische Natur zurück, aus der sie ihnen doch herausgeholfen hatte, und sprechen vom „Pflänzchen Demokratie“, mit dem man noch umzugehen lernen müsse, wo es doch 55 Jahre nicht wachsen durfte oder wollte. Oder sie benutzen sie als sozusagen negatives tertium comparationis, das Faschismus und Sozialismus vergleichbar macht, was man expressis verbis natürlich nicht will, „aber beide waren Nichtdemokratien“ (Hein).
So viel zur Vergangenheit. Zu deren Nichtverdrängen einhellig ermahnt wurde, beziehungsweise wollte man die Verdrängungen benannt wissen. Wobei letztere sich aber plötzlich als Großes, das man nicht vergessen dürfe, entpuppte, denn als heillose Taten des doppelten Landes: „Der deutsche Widerstand war kein kleiner und muß sich nicht verstecken“ (Monk). „Die Leute sind weniger simpel strukturiert, als es jetzt scheint“ (Kohlhaase). „Es gab so viel Humor auf der Straße im November. Vielleicht kriegen wir den ja nochmal in die Entwicklung rein“ (Hein). Und alle die ermordeten Juden und Sozialisten, an die keine Straßennamen erinnern, in Ost und in West nicht... Gerade letztere Mahnung von Jens war schrecklich gut gemeint. Wie überhaupt er sich am entschiedensten äußerte, was gleichzeitig hieß, am zurückhaltendsten. Er meinte offensichtlich, was er allen ans Herz legte: Man müsse gegen all den bramarbasierenden Politikergrößenschwachsinn besonders „behutsam und differenziert“ denken, reden, handeln.
Trotzdem gerieten die zweikulturellen Soli, verlockt durchs öffentliche Ritual womöglich - der große und der kleine Akademiesaal waren rappelvoll - in einen höchst eigenartigen Sog: Man wollte retten, was rettenswert ist, aber nicht „unwiederbringlich“, und suchte plötzlich Anschluß natürlich nicht den von damals, aber den ans irgendwie Große: Republik, Hölderlin, Klopstock, Widerstand, edle Juden. Nicht mal das Volk wollten die versammelten Kunst -Händler verachten; den Fehler hatten andere Besetzungen ein paar Runden vorher gemacht, als sie sich vom Volk enttäuscht zeigten. Wenn selbiges nun rufe: Wir sind ein Volk!, dann könne er, sagte Hein, nur hoffen, „daß wir es auch werden und daß die Behinderten und die Spinner dazugehören“.
Diese Volksliebe verhinderte dann allerdings auch, daß man mal grundsätzlich sich oder den Kollegen Dichter fragte, was denn da eigentlich schief gegangen war, daß das Neue Forum, das ja, wenn überhaupt eine Gruppierung, die Umwälzung in die Wege geleitet hatte, seine anfänglichen fünf Prozent auf 35 im November vergrößern konnte und jetzt bei den Wahlen womöglich nicht mal deren drei erreicht. Das war halt „die Infamie der Medien“ (Braun), und dann hat es sich anders entwickelt.
Irgendwie drängt die Zeit dann ja immer, aber Punkt drei mit der Verantwortung war noch nicht erledigt, außer daß Martiny schon am Anfang gesagt hatte, daß sie „eine große spüre“. Also bekannte dann jeder zum Schluß noch, daß er schreien wolle, wo die Dummheit überhand nimmt. Toleranz erlernen, hinsehen und nicht fliehen, einen Zipfel der Wahrheit erwischen, an der Demokratie mitwirken und - „das Erbe heim holen“ wolle; kurz: nie nichts Garstiges und Häßliches tun. Und dann darf man auch wieder ein kleines bißchen den unentgeldlichen runderneuerten Ruinensong wagen, den die auch fürs Liedgut zuständige Kultursenatorin zu Anfang dekliniert hatte.
„Das Erbe“ besteht übrigens aus den Originalmanuskripten von Marx und Engels, die jetzt in Amsterdam liegen und doch eigentlich UNS gehören, das heißt der gesamtdeutschen SPD. So sprach Monk. Und nimmermehr wollen wir uns gegenseitig demütigen und Dichter zum Vorturnen und uns zum Zuhören von was bringen, was alle sowieso schon fürchten und sie selber und wir nicht mehr hören mögen.
Christel Dormagen
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen