piwik no script img

WER ZU SPÄT KOMMT...

 ■  Gorbi-Manie und das Prinzip Hektik

Letzte Woche feierte er den 59. Geburtstag, diese Woche sein fünfjähriges Dienstjubiläum als Parteichef, begleitet von waschkörbeweise Glückwünschen und guten Hoffnungen, er ist der beliebteste russische Außenpolitiker aller Zeiten, der beste Redner in der Parteispitze seit Trotzkis Rausschmiß 1926 und derzeit der wichtigste Mann der Welt: Michail Gorbatschow. Die Banker der Wallstreet, die Devisenhändler in Tokio, die Kardinäle im Vatikan, die Völker in Osteuropa, DDR, BRD, EG, USA - sie alle verfolgen das Wohl und Wehe des sowjetischen Generalsekretärs bangen Blicks. Ein windiges Gerücht über die Abgabe eines seiner Ämter, schon steigt die Krisenwährung Dollar um fünf Pfennig, ein Bericht über die Zuspitzung ethnischer Konflikte in der äußersten Mongolei läßt die Aktienkurse in Paris und London fallen, bringt Gorbatschow im Plenum irgendeinen Antrag mit einstimmiger Mehrheit durch, gilt seine Lage als konsolidiert, macht er auf dem Kreml-Flur im Vorbeigehen vor Journalisten eine Bemerkung über Deutschland, jubelt 'Bild‘ am nächsten Morgen: „Danke Gorbi. Alles klar!“ Einen Personenkult wie frühere Sowjetführer hat Gorbatschow nicht inszeniert, dafür aber schlägt ihm aus dem gesamten Ausland eine Verehrung entgegen, von der ein Stalin nur träumen konnte und vor der das rumänische „Licht, das selbst der Sonne trotzt“ wie eine Funzel erblaßt. Sowjetbürger auf Westreisen reiben sich angesichts der Gorbatschow-Begeisterung ungläubig die Augen: Daß „Gorbi“ auf der internationalen Sympathieskala direkt hinter „Alf“ an der Spitze liegt, will ihnen genausowenig in den Kopf wie die Tatsache, daß außer „Wodka“ und „Rubel“ im Westen plötzlich noch zwei weitere Vokabeln, „Glasnost“ und „Perestrojka“, geläufig sind - hat es doch seit Iwan dem Schrecklichen keine russische Regierungserklärung gegeben, in der nicht mindestens an einer Stelle die Notwendigkeit einer sofortigen „Perestrojka“ aufs schärfste betont wurde. Und plötzlich plappert die halbe Welt die ausgelatschte Politformel inbrünstig wie ein tibetanisches Mantra, während bei Mütterchen Rußland und Iwan Normalverbraucher nach fünf Jahren Gorbi immer noch nichts angekommen ist. Im Gegenteil, die Versorgungslage ist teilweise schlechter als zu Zeiten des Finsterlings Breschnew, von Umgestaltung keine Spur, die Stimmung depressiv - vor dem ausgiebigen Essen keine liberale Moral.

Der Begeisterung im Westen tut das keinen Abbruch, die Umwälzungen in den Warschauer-Pakt-Ländern und die Öffnung der DDR haben die Gorbi-Manie, speziell in Deutschland, noch gesteigert. So weit, daß der Satz, mit dem Gorbatschow zum 40.Jahrestag den verstockten Honecker scheuchte - ein Spruch von geradezu erbärmlicher Einfalt -, durch permanente, prominente Wiederholung zum Sprichwort des Jahres 1989 avancierte: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Da dreht sich Beckett im frischen Grabe. Zu allem Überfluß hat sich die dumpfe Tempo-Formel mittlerweile nicht nur als Ornament öffentlicher Rede etabliert, sondern auch als Handlungsanweisung: Es scheint, als ob die aberwitzige Hektik, in der sich das drittreichste mit dem achtreichsten Land der Erde wegen des „Wohlstandsgefälles“ vereinigt, ausschließlich der Befolgung dieser kaukasischen Bauernregel geschuldet ist. Anders läßt sich all die Eile, das Gejammer über zuwenig Zeit, knappe Termine, dringenden Handlungsbedarf, die ganze Deutschland-Hetze also, gar nicht erklären - die Deutschen tun so, als ob auf jedwede Verzögerung ewiger Ausstoß aus dem Klub der Superreichen und Dahinvegetieren auf dem Molukker-Niveau von, sagen wir, Spanien und Portugal drohe. So kommt es, daß sich das Problem von 50 fehlenden Ärzten im Leipziger Hospital einfach nicht mehr anders lösen läßt als durch Wiedervereinigung - wenn die zu spät kommt, wird es wirklich lebensgefährlich.

Die hohle Formel von Gorbatschow Superstar mag als Knute für die trägen Oblomov-Naturen sibirischer Kolchosen vielleicht angebracht scheinen, im ehemals christlichen Abendland aber gilt mehr denn je die Regel, daß die Ersten die Letzten sein werden: Wer zu spät zur Konsum-Vernunft kommt, zerstört das Leben, wer in der Beschleunigung des Verbrauchs neue Rekordmarken setzt, bestraft die Natur, wer den Hals immer noch nicht vollkriegen kann, hat den Kopf verloren.Mathias Bröckers

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen