: Rhetorische Fragen
Wie weit denkt der Bundeskanzler? ■ G A S T K O M M E N T A R
Wilhelm II. war durch Erbfolge zum Führer des Reiches bestimmt. Schlichte Dummheit war kein Grund, ihn von der Thronfolge auszuschließen. Aber Kohl hat sein Amt nicht geerbt. Wäre er wirklich dumm, wie manche glauben, hätte er es wohl nicht so weit gebracht.
Werden Dummheit und Tölpelhaftigkeit als Erklärung für sein gegenwärtiges Verhalten nicht mehr zugelassen, müssen wir uns fragen, ob er in der Deutschlandpolitik nicht eine raffinierte Verhinderungsstrategie verfolgt. Es könnte doch sein, daß ihm die Vereinigung der deutschen Teilstaaten jetzt und zu den gegenwärtigen Bedingungen ganz und gar gegen den Strich geht. Er könnte auch überlegt haben, daß ein klares Wort gegen die Vereinigung ihn aus dem Amt tragen würde. Und will er etwa nicht Kanzler bleiben?
Mal anders herum gefragt: Wie müßte er es wohl anstellen, wenn er die Vereinigung verhindern wollte? Ich meine: genau so.
Wohl nur die Siegermächte könnten - gestützt auf den starken Widerwillen unserer Nachbarn gegen ein einiges Deutschland - die Vereinigung noch verhindern. Das ginge auch nur, wenn vorher die Begeisterung der Deutschen für eine Vereinigung gebrochen wäre.
Wie er die Sache angeht - läßt das nicht eine Sturzgeburt mit schlimmen Folgen befürchten? Die Menschen in beiden Teilen werden zunehmend unsicher. Ihre überschwengliche Freude weicht üblen Regungen. Schon stellt sich Trauer ein. Wie er mit Modrow umspringt - muß das nicht unsere Landsleute drüben tief verletzen? Die neuerliche Mißhandlung und Demütigung der Polen - muß sie nicht Europa gegen uns aufbringen? Die Verletzung der Sicherheitsinteressen der Sowjetunion - ist sie nicht das sicherste Mittel, Gorbatschow zu zwingen, auf die Bremse zu treten? Gibt es ein Motiv?
In den drei Jahrzehnten des „realen“ Sozialismus sind in der DDR jene gesellschaftlichen Schichten untergegangen, die in der Bundesrepublik die verläßliche Basis des CDU -Einflusses bilden. Sie würden sich - wenn überhaupt - auch nach vollzogener Währungsunion und Wirtschaftsgemeinschaft im Bereich der ehemaligen DDR so schnell nicht regenerieren. Die Rede, in Europa sei die Renaissance der Sozialdemokratie angebrochen, wird ja wohl auch die CDU vernommen haben. Müssen Kohl und seine Partei etwa nicht fürchten, die Menschen in Osteuropa könnten ihre Lektion noch nicht richtig gelernt haben; sie könnten - auch wenn sie das Wort „Sozialismus“ gegenwärtig nicht mehr hören wollen - immer noch anfällig sein für ein Experiment mit der demokratischen Variante des Sozialismus?
Daß sich Kohl gern mit Konrad Adenauer in eine Reihe stellt, hat vielleicht doch eine tiefere Bedeutung. Adenauer trat als Oberbürgermeister von Köln für die Gründung einer „Westdeutschen Republik“ ein. Er wollte los vom Deutschen Reich. Das war 1924/25. Im Jahre 1953 wehrte er als Kanzler der westlichen Teilrepublik erfolgreich die Vorschläge der DDR-Regierung und Stalins ab, die auf die Abhaltung freier Wahlen in beiden Teilen Deutschlands und die Herstellung der deutschen Einheit in Neutralität abzielten.
Kohl könnte doch meinen, die Zeit für eine Vereinigung sei noch nicht gekommen. Da er und seine Partei nicht die Verlierer sein wollen, muß im ehemaligen Ostblock auch die demokratische Variante des Sozialismus erst noch Schiffbruch erlitten haben, ehe sie das Risiko einer Vereinigung eingehen können. Wahrscheinlich ist das Kalkül des Kanzlers viel komplexer.
Sicherlich rechnet er damit, daß die sowjetische Armee wenn sie denn noch kräftig genug ist für einen erfolgreichen Staatsstreich - sich nach innen gegen das eigene Volk richten und sich so restlos diskreditieren werde. Wäre es ihm etwa nicht zuzutrauen, daß er auf diesen totalen Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums reflektiert? Wenn militärische Machtentfaltung sich so überlebt, wer wäre dann noch in Europa stärker als die Bundesrepublik?
Wenn er auf diesem Wege für Deutschland den Zweiten Weltkrieg doch noch gewönne, wäre das nicht die Krönung seines Lebenswerkes? Nebenbei würde auf diesem Wege zur Wiedervereinigung für etwa zehn Jahre noch einmal das alte Feindbild wiederhergestellt. Der Rüstungsindustrie wäre eine Atempause verschafft, deren sie für die Umstellung auf zivile Produkte dringend bedarf. Es wird Zeit, daß wir aufwachen
Horst Mahler
Der Autor ist Rechtsanwalt in Berlin. 1968 war er APO -Aktivist und deren Anwalt.
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