piwik no script img

Chaos oder Verfassung

Plädoyer für eine große Verfassungskoalition  ■ K O M M E N T A R

Die Wahlfrage für die DDR klärt sich - bedauerlicherweise aber eher in der Bundesrepublik und, doppelt bedauerlich, über Grundgesetzinterpretationen. Die Wahlfrage lautet: Anschluß oder Gleichberechtigung; Artikel 23 oder Artikel 146 des Grundgesetzes. Man könnte die fatalen Alternativen fortsetzen: Politik der Angst oder Programmation der Interessen; Chaotik der starken Männer oder Entwicklung einer agierenden Öffentlichkeit in beiden deutschen Staaten. Bundeskanzler Kohl, als zielbewußter Chaotiker, hat die Auseinandersetzung um die Einheit nun noch um einige Grade verschärft. Er kündigte als Thema des nächsten Koalitionsstreites das Ja oder Nein zum Anschluß nach Artikel 23 an. Diese Ankündigung betrifft nicht nur die FDP. Sie heißt, daß das Grundgesetz selbst zum Schlachtfeld des Wahlkampfes werden soll; daß ein Streit beginnt, wonach jetzt „23er“ den „146ern“ unterstellen, sie würden die deutsche Einheit verhindern. Das Grundgesetz als innenpolitisches Totschlaginstrument.

Der schnelle Anschluß nach Artikel 23 widerspricht dem Geist des Grundgesetzes. Er wird sich auch nicht so schnell machen lassen. Selbst wenn die Allianz am 18. März eine parlamentarische Mehrheit erzielen sollte, wie wollte sie dann den Beitritt nach Artikel 23 einleiten? Durch einen eingeschriebenen Brief mit dem Verweis auf den Wahlsieg? Es bedarf doch immerhin einer verfassungsmäßigen Grundlage, die den Austritt regelt, um der Bundesrepublik beitreten zu können. Gleichwohl können Verfassungsdiskussionen Demagogie und innenpolitische Dynamiken nicht unter Kontrolle halten. Ohne eine große Koalition über die innerdeutsche Grenze hinweg läßt sich Kohls Politik nicht aufhalten. Diese große Koalition zeichnet sich ab, es ist eine Koalition für eine neue Verfassung. Die Volkskammer, zuletzt als Notar des Runden Tischs, hat eine Reihe von Gesetzen verabschiedet. Der Runde Tisch selbst hat mit der Sozialcharta und mit der Arbeitsgruppe „Neue Verfassung“ Beiträge zur Verfassungsdebatte formuliert. Die SPD hat in ihren neuen Leitlinien für „Schritte zur deutschen Einheit“ eindeutig dem Artikel 146 den Vorrang gegeben: „Dieser von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes für die Einheit vorgesehene Weg hat den Vorzug, daß das Volk selbst die deutsche Einheit begründet.“ Zudem läuft die Außenpolitik beider deutscher Staaten auf eine Entwicklung zur deutschen Einheit in Etappen. Nur so läßt sich der Einheitsprozeß mit der europäischen Integration und der Sicherheitspolitik verbinden.

Modrows Besuch in Moskau hat noch einmal unübersehbar deutlich gemacht, daß Moskau das Procedere der deutschen Einigung nicht als einen ausschließlich innenpolitischen Vorgang akzeptieren wird. Kohl, der Innenpolitiker par excellence, ist also nicht nur durch seine teutonische Sturheit, sondern durch die Politik, die er macht, in eine außenpolitische Isolation geraten. Die Chancen einer großen Koalition gegen die Kohlsche Anschlußpolitik sind also gar nicht so klein. Sie muß nur gewollt werden, rechtzeitig gewollt werden. Die 53 Prozent unentschlossener DDR-Wähler zeigen - angesichts so klarer Alternativen - ein bestürzendes Maß an Verunsicherung, eine Verunsicherung, die Kohl in seiner demagogischen Linie nur bestärkt. Diesen 53 Prozent muß deutlich gemacht werden, daß sie nicht erst den Anschluß wollen dürfen, um dann ihre Interessen durchzukämpfen; sie müssen begreifen, daß allein in einem Prozeß der Verfassunggebung, also in einer längeren Frist, ihre Interessen gewahrt werden können. Diese Deutlichkeit zu erzielen, das wäre die Aufgabe einer gesamtdeutschen großen Koalition.

Klaus Hartung

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen