: Gorbatschow: Litauen muß für Unabhängigkeit zahlen
■ Das Landesparlament wird am Wochenende einseitig die Unabhängigkeit erklären Gorbatschow präsentiert 58-Milliarden-Mark-Rechnung und kündigt Grenzstreit an
Berlin (taz/ap/dpa) - Den Ermahnungen und Warnungen Gorbatschows zum Trotz wird der Oberste Sowjet Litauens am Wochenende die Unabhängigkeit des Landes und den Austritt aus der Union erklären. Gorbatschow hat Litauens Präsident Brasauskas erklärt, die Sowjetunion werde in diesem Falle den Litauern eine Rechnung von 21 Milliarden Rubel (nach offiziellem Kurs 58 Milliarden DM) für dort getätigte Investitionen präsentieren.
Der dem litauischen Parlament vorliegende Antrag wird die Verfassung der heutigen Sowjetrepublik außer Kraft setzen und die Unabhängigkeitserklärung von 1918 wieder zum geltenden Recht erheben. Damit weigert sich das Parlament, nach der Austrittsprozedur zu verfahren, die dem Obersten Sowjet der UdSSR als Entwurf vorliegt. Die Eröffnungssitzung des neuen Parlaments ist mit Bedacht vorverlegt worden, um der nächsten Sitzung des allsowjetischen Obersten Sowjet zuvorzukommen. Dort steht nächste Woche die endgültige Verabschiedung des Gesetzes über die Präsidentschaft an, das Gorbatschow die Möglichkeit geben würde, über einzelne Republiken den Notstand zu verhängen. Im litauischen Obersten Sowjet verfügen die Anhänger der lettischen Unabhängigkeit über eine sichere Zweidrittelmehrheit.
Gorbatschows Aufrechnung setzt sich aus Investitionen zusammen, die seitens der Zentralregierung in Litauen getätigt wurden. Hinzu kommt ein weiterer Milliardenbetrag für noch ausstehende Lieferungen. Tatsächlich hat die Sowjetunion hier riesige Anlagen hochgezogen, vornehmlich der Grundstoffchemie, deren Produkte überwiegend in die russische Föderation fließen. Den Litauern bleiben nur die verpestete Umwelt und Ökokatastrohen wie die vom 20.März 1989, als nach der Explosion einer Ammoniakfabrik bei Janover 30.000 Menschen überstüzt evakuiert werden mußten. Ein unabhängiger litauischer Staat würde einen großen Teil der Petrochemie still legen und der Sowjetregierung die Kosten einer aufgezwungenen Industrialisierung als Gegenrechnung präsentieren. In diese Rechnung dürfte auch der große Verlust Fortsetzung auf Seite 2
an Menschen und Gütern eingehen, den Litauen im Gefolge der Annexion erlitten hat. Bei seiner Unterredung mit Brasauskas warnte Gorbatschow eindringlich vor weiteren ökonomischen Folgen einer Sezession. Der Handel mit der Sowjet
union müßte dann auf konvertierbare Währung umgestellt werden. Bis jetzt zahlt Litauen nur ein Drittel des Weltmarktpreises für Energie und Rohstoffe aus der SU. Präsident Brasauskas sprach am Mittwoch im Fernsehen seinen Landsleuten Mut zu. Die Situation sei zwar extrem schwierig, es bestehe aber kein Grund, vor den wirtschaftlichen Folgen eines Austritts aus der Union Angst zu haben. Allein werde es der Republik viel besser gehen als zusammen mit Moskau. Brasauskas Ansicht enthält nicht nur Zweckoptimismus. Litauen liegt zwar im Lebensniveau hinter Estland und Lettland zurück, hat aber eine solide landwirtschaftliche Basis und kann im Verein mit den beiden anderen baltischen Staaten einen gemeinsamen Markt bilden, der sich dann der Efta anschließen und/oder der EG assoziieren könnte. Ein äußerst
schwieriges und unerfreuliches Kapitel wird die Frage der neuen Grenzen Litauens bilden. Gorbatschow hat durchblicken lassen, daß die Zugehörigkeit Kleipedas, des alten ostpreußischen Memel, zu Litauen offen sei.
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