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Kunst im Reichsbahnkeller

■ Seit Donnerstag im S-Bahnhof Oranienburger Tor: Kunst contra Commerz

Schneller als die Werbung wollten sie sein und kamen gerade noch rechtzeitig, bevor auch in den ehemaligen Geisterbahnhöfen Manfred Krug sein Schultheiß-Lächeln aufsetzt. Im bisher unzugänglichen S-Bahnhof Oranienburger Straße schlugen die beiden Berliner Kunststudenten Nils -Rainer Schultze (24) und Mario Valentin (27) zu. Nach nervendem dreimonatigen Marsch durch die Institutionen erlaubt ihnen nun ein Gestattungsvertrag mit Reichsbahnpräsidenten Löscher den Bahnsteig für „künstlerische Zwecke“ zu nutzen. Vier Wochen für 15 DDR -Mark. Seit Donnerstag vormittag stehen ihre Gipsfiguren auf dem bisher verwaisten Bahnsteig und zeigen zumindest vorerst den Werbehaien von Philip Morris und Konsum provokant den Daumen. Knapp 20 Sekunden bleiben dem interessierten Fahrgast, sich seinen Reim auf die Skulpturengruppe zu machen, die nach Meinung der beiden Initiatoren auf die schizophrene Situation aufmerksam machen soll, daß „sich oben fast alles ändert und hier unten die Zeit scheinbar stehengeblieben ist“. Bei der BVB, wo das Team zuerst vorsprach, zuckten beim Thema nur lässig die Schultern. Zu schlechte Erfahrungen hatten die U-Bahner mit den vom Magistrat und der Bezirksleitung der SED verordneten und eher fade von Künstlern umgesetzten Plakataktionen gemacht. Auch jene verschreckten Gralshüter der Unterwelt von der Attraktivität und spezifischen Werbewirksamkeit ideologisch nicht ferngesteuerter Kunst zu überzeugen, ist erklärtes Anliegen der beiden sympathischen Studenten. Das Beispiel könnte Schule machen und schon bald Theatergruppen und Rockmusiker, Models und Videokünstler erneut mit neuer Legitimation in den Underground ziehen. Denn zumindest hier beweist die Umkehrung des oftmals kolportierten Manne-Krug -Megasatzes Dimension: Der erste macht das Licht an!

Paul Kaiser

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