: Genscher in Bitterfeld
■ Der dienstälteste Außenminister der Welt, geboren in Halle, läßt die Bitterfelder ratlos zurück / Der geschickte Verkäufer liberaler Politik eher farblos als clever
Bitterfeld - Wahlkampf bringt Farbe in den grauen Alltag, Wolfen macht da keine Ausnahme. Das geplagte Städtchen im Kreis Bitterfeld ist mit Plakaten fast zugeklebt. Vor allem ein Mann hat auf ihnen gut lachen: Hans-Dietrich Genscher. Mit einer Werbetour durch „Sachsen-Anhalt“ soll der gebürtige Sachse dem eher farblosen „Bund Freier Demokraten“ zu mehr, beinah hätte ich gesagt: eigenem Profil verhelfen.
Einen geschickteren Verkäufer liberaler Politik hätte man kaum finden können, obwohl - oder gerade weil? - sich Genscher am Donnerstagabend vor ca. zehntausend (nach Angaben des Veranstalters 25.000) BürgerInnen des Raumes Wolfen/Bitterfeld nicht lange bei den drei östlichen Schwesterparteien aufhielt. Während die F.D.P. und die Deutsche Forumpartei einen ziemlich fremdgesteuerten Eindruck hinterlassen, ist die LDP in den Augen vieler Wähler durch ihre Vergangenheit diskreditiert. Für die Zukunft vereint neben der Losung „Freiheit, Demokratie und Leistung“ auch die Zielgruppe: kleine und mittlere Handwerker und Gewerbetreibende, der sogenannte Mittelstand. Ob da Bitterfeld ein günstiger Ort zum Stimmenfang war?
Hier, im ökologischen Katastrophengebiet Europas, braucht es wenig, um die Hoffnung der Menschen auf seine Seite zu bekommen. Noch dazu wenn man wie Genscher mit „großzügigen Maßnahmen“ zur Umweltsanierung locken kann. Die „Dreckschleudern“ Chemiekombinat Bitterfeld (CKB) und das Fotochemische Kombinat Wolfen pulvern jährlich ca. 90.000 t Schwefeldioxid, 14.000 to Kohlenmonoxid und 38.000 t Staub in die Luft. Die Folge: schwere Gesundheitsschäden bei der Bevölkerung, verheerende Umweltschäden. Die Dübener Heide, einst reizvolle Landschaft, ist so gut wie tot.
Viele Werktätige fürchten um den Erhalt ihrer Arbeitsplätze, seitdem im Dezember 1989 die Alu-Fabrik 1, das CKB und die Viskosefaserproduktion in Wolfen stillgelegt wurden. Weitere Betriebe sollen folgen. Die Schlange vorm Arbeitsamt werde von Tag zu Tag größer, berichtet mir eine Krankenschwester, die extra von Bitterfeld herübergekommen war, um Genscher zu hören. Auch nach seiner Rede bleibt sie ratlos. Sie glaubt nicht an eine schnelle Verbesserung der Lebensbedingungen. „Schauen Sie sich doch die Betriebe an, oder unser Krankenhaus. Wer will da noch 'ne Mark investieren?“ Ihre Kinder hätten es alle, wie sie selbst, „mit der Lunge“. Ja, Asthma. Zukunft in Bitterfeld? „Ich mache rüber zu meinen Verwandten in Hessen. Das ist kein Leben hier“.
Wie sie setzen viele ihre Hoffnung auf eine schnelle Vereinigung der beiden deutschen Staaten, am Gebäude des Rates der Stadt Wolfen-Nord hängt gar schon die Fahne ohne Emblem. Trotzdem erstaunlich viele DDR-Fahnen. Vielleicht verführten die Genscher zu dem denkwürdigen Satz, am 18. März hätten sich die Bürger für oder gegen eine deutsche Einheit zu entscheiden. Als ob er es nicht schon besser wüßte.
Dirk Winkler
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