Wie unsozial werden EG und BR-D-DR?

■ ExpertInnen diskutierten auf Einladung der Sozialsenatorin / Vereinigung wird „sehr viel chaotischer kommen“

Wie unsozial wird es auf dem europäischen Binnenmarktes zugehen und in dem sozialen Netz, daß darunter aufgespannt wird? Auf welchem Niveau werden die sozialen Standards von DDR und BRD angeglichen? Und wer wird dafür bezahlen? Fünf ExpertInnen hatte Sozialsenatorin Sabine Uhl am Freitag eingeladen, um auch einmal im ausgesuchten bremischen Kreis die europäische und die gesamtdeutsche Sozialpolitik zu diskutieren.

Die Mitarbeiterin der SPD-Bundestagsfraktion Birgit Gantz -Rathmann stellte ein „politisches Papier“ vor, das SPD -Vorschläge zur Sozialpolitik der deutschen Vereinigung enthält. Erstens: Die Wirtschafts- und Währungsunion ist mit einer Sozialunion zu verbinden. Zweitens: Massenarbeitslosigkeit in der DDR soll vermieden werden durch die Aktivitäten bundesdeutscher Unternehmen und noch zu schaffender DDR-Arbeitsämter. Marode DDR-Betriebe sollen in Beschäftigungsgesellschaften umgewandelt und die Belegschaften einer Qualifizierungsoffensive ausgesetzt werden. Drittens: Während einer längeren Übergangsphase müssen für BRD- und für DDR-BürgerInnen weiterhin unterschiedliche Ansprüche gelten. Zum Beispiel soll das bundesdeutsche Arbeitsförderunsgesetz nicht auf die DDR ausge

dehnt werden. Sondern DDR-BürgerInnen müssen sich mit 670 Mark DDR-Arbeitslosengeld begnügen. Übersiedeln sie in die BRD, können sie sich hier nur auf das Sozialhilfe-Niveau aufstocken lassen. Viertens: Damit DDR-BürgerInnen sich künftig noch krankenversichern können, ist eine Finanzspritze aus dem Westen nötig. Bisher beträgt der DDR -Beitrag bescheidene 60 Mark. Ähnliches gilt, für DDR-Renten (derzeit liegt der Mindestsatz bei mindestens 390 Mark), die kontinuierlich mit den Nettolöhnen steigen sollen. Erhalten bleiben soll dabei das Mindestrenten-System der DDR. Ab einem Stichtag sollen DDR-ÜbersiedlerInnen in der Bundesrepublik ihre Ansprüche nur auf DDR-Basis umrechnen lassen können.

In der SPD wird gegenwärtig weiterhin diskutiert, ob sich nicht auch etwas bei den Sozialleistungen für BRD-Bürger ändern muß, um „Sozialneid“ und sozialen Unfrieden vorzubeugen. Es gibt daher den Vorschlag, die Vereinigung zum Anlaß zu nehmen, auch in der BRD ein System der „sozialen Grundsicherung“ einzuführen: Zunächst soll aus Bundesmitteln und in Höhe der Sozialhilfe gezahlt werden. In einer zweiten Stufe sollen dann die grundgesicherten BundesbürgerInnen 25 Prozent mehr als den Sozialhilfesatz ausgezahlt kriegen. Doch ob

diese sozialen sozialdemokra tischen Ideen je in Regierungsprogramme umgesetzt werden, bleibt abzuwarten. Da ist nicht nur der künftige Koalitionspartner FDP vor, sondern auch der Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine, der öffentlich erklärt hatte, er werde keine neuen sozialen Leistungen versprechen.

Die Debatte über die SPD-Pläne förderte die Einsicht zu Tage, daß die überstürzte „Wiedervereinigung sehr viel chaotischer wird, als man sie sich vorstellt“. Die SPD'lerInnen wollen es dabei der CDU überlassen, den unpopulären und milliardenschweren Preis der Einheit zu beziffern.

Bei den Referaten über die EG-Sozialpolitik wurde klar, daß auch dort noch vieles im Unklaren ist - obwohl sich die EG -Vereiniger in Brüssel mehr Vorlaufzeit nehmen als die rasanten Deutschlandvereiniger von SPD, FDP und CDU. Allerdings war die Sozialpolitik den EG-PolitikerInnen erst relativ spät - 1988 - so recht zur Aufgabe geworden. Die EG -Sozialpolitik sei „Nachzügler, aber Bestandteil des Geleitzuges“, wurde am Freitag der Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler zitiert.

Die EG-„Sozialcharta“ konzentriert sich auf das Recht der EG-ArbeitnehmerInnen auf Freizügigkeit, ein Recht, daß der

Freizügigkeit des EG-Kapitals nachkonstruiert wurde und das kein „Bürgerrecht“ ist. Allerdings wird das Recht auf Freizügigkeit ausgedehnt von den mobilen EG -ArbeitnehmerInnen auch auf „nachzugsberechtigte Familienmitglieder“ und in der sogenannten „Playboy„ -Richtlinie auf solche nicht-erwerbstätigen Menschen, die versprechen können, im Nachbarland keine Sozialhilfe zu beanspruchen. Der Vertreter des europäischen Gewerkschaftsbundes in Brüssel, Dr. Fritz Rath, stellte die Unverbindlichkeit der „Sozialcharta“ heraus, mit dieser könne ein Arbeitnehmer genauso wenig vor Gericht ziehen wie mit der Regierungserklärung des Bundeskanzlers. Rath sagte auch „Disparitäten“, ein „Auseinandertriften der Regionen“ im Binnenmarkteuropa voraus. Gleichzeitig warnte er bundesdeutsche BeobachterInnen aber davor, bei EG-weiten Angleichungen grundsätzlich von einem Absinken der sozialen Standards der Bundesrepublik auszugehen. Beispielsweise in puncto Arbeitssicherheit würden Länder wie Dänemark, Belgien und Frankreich den Ton angeben und nicht die BRD. 1990 will die EG-Kommission so gewichtigte Bereiche angehen, wie die Teilzeitarbeit oder das freie Wochenende. Hildegard Kaluza, beim Bremer Senator für Arbeit für

Frauenpolitik zuständig, fragte kritisch nach, warum sich die EG-Kommissare seit den frühen 80er Jahren nicht auf eine Teilzeit-Richtlinie oder eine Elternurlaubs-Richtline verständigen konnten, aber sich nun neue Richtlinie vornähmen. Barbara Loer von der Bremer Gleichstellungsstelle vermutete ebenfalls, daß der EG-Binnenmarkt eine Polarisierung der Beschäftigten mit sich bringen und daß die 170 Millionen Frauen die Leidtragenden sein würden. Mehrere Redner stellten denn auch klar, die viel

geregelte „Freizügigkeit“ innerhalb der EG betreffe nur zwei von 320 Millionen EB-BürgerInnen, nämlich die hoch qualifiziertesten. EG-Gewerkschafter Rath betonte die „absolut katastrophale“ Wirkung der Kohl'schen Diskussion über die Oder-Neiße-Grenze. Die West-EG-lerInnen würden der Bundesrepublik den DDR-Beitritt mit Sicherheit erschweren.

Summa summarum blieb der Eindruck nach sechs Stunden Kopfarbeit: Nichts Genaues weiß man nicht.

bd