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Sehtöne

■ Ildiko Enyedis „Mein 20. Jahrhundert“ im Cinema / Zauberstab-Bilder

Der Globus hüpft, eiert noch nicht und hat Grund zur Freude: Herr Edison hat soeben zum zweiten Mal das Licht erfunden. Aber er ist ein melancholischer Herr; schaut hoch zum Himmel und weiß, daß er den Sternen Konkurrenz und eine neue Art von Schatten gemacht hat - und er hat ihr Geheimnis gestohlen. Wie also 1880 im Menlo Park in New York seine berühmte Illumination, eine reale Fata Morgana von Glüh(birnen)bäumen, die Menschen zu künstlich Beleuchteten macht, so daß sie nun erkennen könnten, wenn sie wollten, klingeln plötzlich Stimmchen wie von Engelein auf Kinderweihnachtsplatten - das sind die Sterne, die die Dinge auf der Erde aus dem Off kommentieren. Zarte Spieluhrentöne drehen sich um unsere Sesselohren und wir sehen und horchen auf und ist es denn die Möglichkeit? Was passiert (uns) denn da? Was weiß der Himmel?

„Mein 20. Jahrhundert“ von der Ungarin Ildiko Enyedi, geboren 1955 in Budapest, die für diesen Film letztes Jahr in Cannes die „Goldene Kamera“ erhalten hat, beginnt so: Bilder wie Zauberstäbe, die an uns rühren. Ein Film, der ein Märchen ist von der Hell-Dunkelheit der Dinge und der Menschen und der Möglichkeiten, eine Synästhesie in Schwarzweiß; greifbares Licht; Sehtöne. Ildiko Enyedi hat ein Wunder vollbracht, eine neue

Filmsprache zu erfinden, schlicht kühn, und irgendwie ätsch sich um keine Konvention gekümmert: Sie verkuppelt Walt Disney-artiges Funkelpling und surreale Poesie und Ideengeschichte aus Fleisch und Blut und Menschen aus Sinnbild und Sehnsucht und Pawlow'sche Hunde und befreit sie vom Festgelegtsein in der Geschichte. Eine wunderbar radikale Poesie der möglichen Wirklichkeiten. Wirklich: Ein Stern sprechklimpert Pawlows Hündchen - mit den Elektroden auf dem traurigen Kopf - von Sehnsucht, vom Glück der freien Wiese, und also macht er sich frei und wir sehen ihn über die Wiese hüppeln bis ans Meer - mein Gott, was hätte dieses Jahrhundert aus uns machen können, wenn wir nicht immer die linke Gehirnhälfte benutzt hätten, wo das Analytische sitzt. Dabei ist doch auch das Kinetoskop erfunden worden, der Telegraph!

Die ent-zweite, halbierte Version eines eigentlich Zusammengehörenden - damit sind du und ich und die linke und die rechte Gehirnhälfte gemeint - verkörpern die Zwillingsschwestern Dora und Lili, früh verwaist und voneinander gestohlen im Schlaf, während sie von einem Eselchen träumten und einer Mutter. Wir treffen sie wieder um 1900, da ist die eine Hochstaplerin und vertritt, drapiert mit dickköpfigen Fuchsstolen , die laszive Seite des

Lebens, das Genußreiche, die rechte Gehirnhälfte, mit Respekt vor Wundern, die andere als Anarchistin die griesgrämige, unsinnliche, verkniffen weltverbessernwollende dem Leben abgewandte Seite. Beiden fehlt ihre Ergänzung. Wir begleiten die beiden auf einer Art Bilderrevue, wie sich die eine juchzig durch ihre Tage räkelt und Männer anbaggert mit Contenance, wie die andere ihre Kugel Dynamit werfen will und eine rührende Odyssee mit der brennenden Lunte durch die Straßen hinter sich bringt; wie beide auch denselben Mann treffen, einen undurchsichtigen Forschertyp, der ihrem Geheimnis am Ende in einem Spiegelkabinett, ganz unwissenschaftlich, weil er sich von dem Eselchen führen lassen muß, näherkommt. Wir erleben Otto Weininger, den jüdischen Frauenhasser, wie er in einem Vortrag vor ungarischen Feministinnen über „Geschlecht und Charakter“ der Frau Minderwertigkeit attestiert, ja, genauso muß das gewesen sein oder vielleicht ganz anders. Und da sind die Erkenntnisse des russischen Anarchisten Fürst Pjotr Kropotkin in dessen Buch „Gegenseitige Hilfe in der Tier-und Menschenwelt“: Tiere brauchen zum Überleben die gegenseitige Mitteilung ihrer Gefühle. Das hat der Affe falsch verstanden, der den Zoobesuchern erklärt, wie seine Neugierde ihn hinter Gitter gebracht hat.

Und all diese verspielten Facetten sind Spiegelstückchen eines noch verheißungsvollen Jahrhundertbeginns, mit soviel Humor, Witz und Liebe zum Lakonischen, und niemals geistreich: „Meine Grundhaltung ließe sich in dem Satz wiedergeben, den meine Cutterin und ich uns immer wieder sagten: 'Bloß nichts Geistreiches!'“, sagt Ildiko Enyedi in einem Interview, und: „Eine lineare Erzählweise interessiert mich genausowenig wie Ästhetik an sich.“ Aber die Dinge hinter den Dingen.

Vielleicht ist „Mein 20. Jahrhundert“ deshalb so faszinierend, weil es zunächst so aussah, als würde der Film nie einen Markt finden. „Ich brauchte nicht an ein Produkt zu denken, das verkauft werden mußte; ... Deshalb habe ich den Film so geschrieben, um das Phänomen des Lichts noch stärker zur Geltung zu bringen“, schreibt sie. Ein Film, den man eigentlich nicht erzählen kann, nur sehen. Claudia Kohlhas

Cinema, 20.45 Uhr

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