"Wir halten am Sozialismus fest"

■ Nach längerem Schweigen formiert sich die Linke wieder: Im "Berliner Aufruf" wenden sich Journalisten, Politiker und linke Gruppen gegen einen kalten Anschluß der DDR

taz: Die Entwicklungen im Ostblock haben die westdeutsche Linke kalt erwischt. Das i-Tüpfelchen auf der dadurch ausgelösten Sinnkrise war dann noch die Niederlage der Sandinisten in Nicaragua. Ist der Berliner Aufruf jetzt der Versuch einer Rekonstruktion der Linken, die in den letzten Monaten geschwiegen hat, ist es der Beginn einer Gegenoffensive?

Croissant: Die Aufgabe des Berliner Aufrufs ist erst einmal, klare Position zu den historischen Prozessen zu beziehen, die in der BRD und in der DDR laufen. Das heißt: Wir haben eine klare Aussage zu dem Versuch formuliert, die DDR über den Artikel 23 kalt an die BRD anzuschließen. Darüber hinaus versucht der Berliner Aufruf, die Linke aus ihrer Lähmung, in der sie sich seit den umwälzenden Ereignissen in der DDR befindet, herauszubringen. Und natürlich ist es der Versuch einer Gegenoffensive. In der BRD und vor allem in der DDR sind in den vergangenen Wochen die Kräfte gewachsen, die sich bewußt geworden sind, welche verheerenden Auswirkungen ein Anschluß der DDR an die BRD hätte, welche sozialen Folgen vor allem die Überstülpung der herrschenden BRD-Rechtsordnung auf die DDR hätte. Wir hoffen, daß sich möglichst viele Linke um diesen Aufruf sammeln.

Meyer: Die Veränderungen im Ostblock und die Niederlage in Nicaragua haben weltweit einen Schock ausgelöst. Das geht einher mit der Aufweichung internationalistischer Prinzipien: Polen und Ungarn haben sich da, was die Finanzhilfe für Befreiungsbewegungen in der sogenannten Dritten Welt angeht, eindeutig geäußert: Die zahlen nicht mehr. Insgesamt kann man sagen: Die rote Fahne, seit 70 Jahren für Millionen Menschen ein Symbol der Freiheit vom Kapitalismus, ist dabei zu sinken. Wir als westdeutsche Linke erkennen klar - und das ist auch die Antwort, die aus der Dritten Welt kommen wird: Auf die Reformen unter kapitalistischen Vorzeichen wird die Armut folgen. Also wird es in den Ländern auch neue Ansätze zu einer zweiten Revolution geben. Nicht sofort, aber in absehbarer Zeit. Das ist Dialektik.

Du hast den 9. November nicht in Berlin, sondern in Chile erlebt. Wie haben die Linken da reagiert?

Meyer: Für die chilenische Linke, von der ja einige tausend im Exil in der DDR saßen, war der Fall der Mauer und die Öffnung der DDR für das bundesdeutsche Kapital natürlich ein Schock. Die wußten, das jetzt alles viel, viel schwerer werden wird. Ein Gewerkschaftsfunktionär hat mir dann gesagt: Wir haben in Südamerika zum Ende dieses Jahrzehnts 250 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Die werden irgendwann auf diese Entwicklungen entsprechend antworten.

Du hast von der roten Fahne als Symbol der Freiheit gesprochen. Das Problem ist, daß sie das für Millionen von Menschen im Ostblock eben nicht mehr war. Damit kämen wir dann auch zum Begriff des Sozialismus: Ist der überhaupt noch zu gebrauchen?

Meyer: Natürlich ist der noch zu gebrauchen. Die Alternative zum Sozialismus ist noch immer der Kapitalismus. Marxismus ist doch nicht nur eine Wissenschaft, sondern auch eine Philosopie. Und die ist bis heute noch von keiner neueren, anderen Perspektive, wie man das Leben der Menschen auf diesem Globus nach den Prinzipien der Vernunft organisieren kann, abgelöst worden. Der Kapitalismus hat noch kein Problem der Menscheit gelöst. Im Gegenteil. Deswegen lassen wir von der sozialistischen Perspektive und auch von diesem Begriff nicht ab. Und auch nicht, weil in den sozialistischen Ländern schwere Fehler gemacht wurden.

Zurück nach Berlin. In eurem Aufruf fordert ihr den Erhalt einer unabhängigen DDR. Selbst die PDS stellt sich aber grundsätzlich einer Vereinigung nicht mehr in den Weg. Die sagen nur noch: Wenn Vereinigung, dann nicht zum Nulltarif, sondern mit der Übernahme bestimmter sozialer Sicherungen oder beispielsweise des Aussperrrungsverbotes.

Croissant: Auch wir sind doch nicht so blauäugig, daß wir den Trend der Zeit nicht sehen. Eine DDR, wie sie bis zum 9. November existiert hat, ist nicht mehr realistisch. Aber es geht doch um die Konditionen. Bei einem kalten Anschluß werden der Bevölkerung der DDR die ganzen Segnungen des Kapitalismus beschert, gegen die wir seit Bestehen der Bundesrepublik als westdeutsche Linke gekämpft haben. Es geht jetzt darum, das zu retten, was in 40 Jahren DDR trotz allem aufgebaut worden ist. Das muß in die Verhandlungsmasse rein. Und das bereitet den Politikern in Bonn doch heute schon heftigstes Kopfzerbrechen.

Meyer: Eben. Der Vereinigungsprozeß, von dem die PDS spricht, erfordert doch eine eigenständige, selbstbewußte DDR. Es muß darum gehen, eine neue Verfassung für ein anderes Deutschland auszuarbeiten. Es kann nicht das Interesse der Linken sein, der DDR die „freiheitlich -demokratische Grundordnung“, die wir als Repressionsinstrument kennengelernt haben, einfach überzustülpen.

Welche „Errungenschaften“ wollt ihr denn übernehmen?

Croissant: Was unbedingt in den Konferenzprozeß „4+2“ eingebracht werden muß, ist das Verbot militaristischer, revanchistischer und faschistischer Propaganda und von Glaubens-, Rassen- und Völkerhaß. Das ist nach der DDR -Verfassung ein Verbrechen.

Heißt das: BRD-Rep-Verbot?

Croissant: Das würde bedeuten, daß die Reps nicht mehr zu den Wahlen zugelassen wären. Damit wären die weg vom Fenster. Und das gilt natürlich auch für die ganzen anderen rechtsradikalen Gruppen. Da bin ich auch ganz klar gegen die radikalliberale Haltung, die sagt, wir lassen die Reps mal machen. Diese Haltung ist in puncto Antifaschismus nicht gefragt.

Meyer: Daß die DDR ein programmiert antifaschistischer Staat ist, das ist eine der politischen Errungenschaften. Wenn man sich mal eine soziale Errungenschaft anguckt, beispielsweise das Arbeitsgesetzbuch der DDR, dann kann man nur feststellen: Da leckt sich die westdeutsche Gewerkschaftsbewegung die Finger nach.

Trotz des programmierten Antifaschismus gibt's in der DDR Rechtsradikale. Das verhindert man doch nicht per Gesetzgebung.

Croissant: Das muß man auch politisch bekämpfen, klar. Trotzdem halte ich diese staatliche Haltung, die sagt: „Bei uns dürfen die nicht öffentlich auftreten“, für richtig. Gerade bei der Geschichte, die wir haben.

Die meisten West-Parteien haben ihre Partner im Osten gefunden. Wie sieht's mit Westberliner Linken aus?

Meyer: Die kleinen linken Oppositionsgruppen werden wohl dieselben Ergebnisse bekommmen, wie wir die hier gewohnt sind: einskommanochwas. Aber wir können uns natürlich vorstellen, daß es in einem künftigen deutschen Staatengebilde eine neue linke Partei gibt. Unter Einschluß der PDS, versteht sich. Darauf müssen wir hinarbeiten.

Die Diskussion um eine neue Parteigründung gibt's bei den linken Grünen und Teilen der DKP ja schon länger. Die bekommt jetzt also einen neuen Schub?

Croissant: Es geht langfristig darum, so eine neue Partei zu schaffen und in den Diskussionsprozeß möglichst alle konsequent linken Gruppen einzubeziehen. Da gehört zum Beispiel der Kommunistische Bund ebenso dazu wie die DKP, demokratische Sozialisten und linke Grüne. Wir müssen dagegenhalten, daß die sozialistische Idee vom Tisch gewischt wird.

Gibt es darüber schon Diskussionen mit der PDS?

Meyer: Das wäre noch zu früh. Wir hoffen natürlich, daß die jetzt am Sonntag stark abschneiden. Und die werden wohl auch ein Faktor bleiben in der DDR. Dann wird man über grenzüberschreitende Zusammenarbeit reden müssen. Das wäre ja auch mal was Neues: daß eine Partei von Ost nach West strahlt. Da werden wir draufhinarbeiten.

In eurem Aufruf heißt es: „Die Utopie von einer Gesellschaft, in der die Herrschaft des Menschen über den Menschen ein Ende findet, ist ein Ziel, für das es sich weiter zu kämpfen lohnt.“ Nun war ja die Herrschaft des Menschen über den Menschen in den realsozialistischen Staaten gerade nicht aufgehoben. Und daß das Pendel - vor allem im Süden der DDR - nun nach rechts schlägt, hat doch was mit diesen Repressionserfahrungen zu tun. Muß man da nicht noch mal, es wäre ja nicht das erste Mal, über eine Neudefinition des Eigenschaftswortes „links“ reden?

Meyer: Ja, das ist ja richtig. Wir waren doch nicht so blöd, daß wir nicht gesehen hätten, was da für Scheiße passiert sind. Aber ich betone noch mal: Wir sind westdeutsche Linke. Wir sind nicht DDR-Linke. Wir kämpfen hier gegen das System. Und aus den Zielen unseres Kampfes müssen wir auch den Begriff links neu bestimmen.

Interview: CC Malzahn