: Steuerparadies Friedrichstraße
■ Zoll hilflos: Wer sich auf den West-Bahnsteigen im Bahnhof Friedrichstraße Zigaretten oder Schnaps holt, hat bei kleinen Mengen nichts mehr zu befürchten
Der Volkssport Zigarettenschmuggel verliert den Kitzel des Verbotenen. Die Öffnung der Grenzen hat dazu geführt, daß der Westberliner Zoll die eigentlich illegale Stange Zigaretten oder die Flasche Schnaps von der Friedrichstraße nicht mehr monieren kann. Was früher nur für die Einreise in die DDR und die Transitstrecke galt, wird jetzt auch bei Zigarettenpendlern vom Bahnhof Friedrichstraße praktiziert: 200 Zigaretten und ein Liter Schnaps pro Kopf sind frei.
Juristisch gesehen, sagt Ulrich Job von der Oberfinanzdirektion Berlin, hat sich die Lage seit der Maueröffnung allerdings nicht verändert. Die DDR galt noch nie als „Zollausland“. Wer Waren aus der DDR nach Berlin (West) oder in die Bundesrepublik bringt, muß deswegen keinen Zoll, sondern „Verbrauchssteuer“ bezahlen. Diese Steuer fällt bei Zigaretten, Spirituosen, Mineralöl, aber auch bei „Leuchtstoffen“ (Lampen) an. Bei Reisen in die DDR oder im Transit darf zum persönlichen Gebrauch eine Freimenge (zum Beispiel 200 Zigaretten, nicht: eine Stange, denn manche Stangen sind größer) steuerfrei eingeführt werden.
Wer bisher beim Umsteigen im Bahnhof Friedrichstraße seine Zigaretten kaufte, mußte diese auf Anfrage verzollen oder abgeben. Seit die Beweise für den Aufenthalt in Ost-Berlin wie etwa die Quittung vom Zwangsumtausch weggefallen sind, betrachten die Zöllner nun größzügig jeden, der mit einer Stange angetroffen wird, erst einmal als DDR-Heimkehrer.
Den großen Ansturm erleben die Beamten von der Mobilen Zollkontrolle (MoBZ) nicht erst seit November, sondern seit etwa einem Jahr, seit die Polen frei reisen dürfen. „Uns interessieren nicht die Menschen, sondern die Taschen“, sagt Dietmar Paulig , Leiter der Mobilen Zollkontrolle. „Zu unseren Kunden gehören fast nur Polen. DDR-Bürger kommen ja mit leeren Taschen.“ Und Westdeutsche haben nun beim Schmuggel kaum noch etwas zu befürchten... „Aber Totalkontrolle war noch nie unser Ziel und ist auch unrealistisch“, sagt Paulig.
Der Zoll betreibt nun „Schadensbegrenzung“, denn bei 15.000 Polen am Wochenende sind die insgesamt 70 Beamten der MoBZ ohnehin recht hilflos. Vor allem in den U- und S-Bahnhöfen um die Friedrichstraße spähen die Zöllner nach sperrigen Taschen und horchen auf klirrende Tüten. Den erwischten Kleinschmugglern wird im Normalfall die Ware abgenommen, oft bleibt ihnen eine Stange Zigaretten als Freiexemplar. Für die übrigen Stangen müßten sie jeweils 38 DM Steuern nachzahlen - die meisten verzichten auf die Ware, beim Zoll stapeln sich die Zigaretten.
Für Westberliner bietet der kleine Grenzverkehr bachtliche Risiken: Wer mit einer zweiten, illegalen Stange unterm Hemd erwischt wird, der zahlt 44 DM. Und wer auf dem Polenmarkt kauft, begeht Steuerhehlerei. Jeder, der dabei erwischt wird, bekommt automatisch eine Anzeige wegen Hehlerei.
Bernhard Pötter
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