Die Kunst des Schielens

■ Ein Gespräch mit Joachim Tschirner, dem neuen Vorsitzenden des DDR-Verbands der Film- und Fernsehschaffenden

Ende Februar hatte der DDR-Filmverband zum außerordentlichen Kongreß nach Ost-Berlin geladen. Ein neues Statut wurde erlassen, ein neuer 33köpfiger Vorstand wurde gewählt. Neuer Vorsitzender ist der Dokumentarfilmer Joachim Tschirner, als seine Stellvertreter wurden die Dokumentarisitin Helke Misselwitz, der DEFA-Dramaturg Gerd Gericke und der Filmwissenschaftler Rolf Richter gewählt.

taz: Der Verband entstand ja im Zusammenhang mit dem 11. Plenum, war also gewissermaßen ein Zensurinstrument. Sie treten ein schweres Erbe an. Wäre es nicht besser gewesen, den Verband aufzulösen?

Joachim Tschirner: Wohl jede Organisation, die in den alten politischen Strukturen entstanden ist, steht heute vor dieser Frage. Kaum eine aber beantwortet sie mit der Selbstauflösung. Das ist nicht in jedem Fall ein Zeichen für Konservatismus oder unkritischen Umgang mit der eigenen Geschichte. Natürlich hätten die Teilnehmer der Generalversammlung des Verbandes beschließen können. Und dann? Das wichtigste Ergebnis unseres Kongresses scheint mir gerade der Erhalt dieses zentralen Verbandes zu sein.

Der alte Verband wurde ein Jahr nach dem berüchtigten 11. ZK-Plenum gegründet. Das war vor 23 Jahren. Ich bin vor zwölf Jahren Mitglied geworden, da war der Verband kein „Instrument der Zensur“ mehr. Diese Kennzeichnung ist wohl überhaupt zu einfach, denn Zensur funktionierte viel komplizierter. Verhängnisvoll war eher, daß es einflußreiche Funktionäre und Künstler gab, die mit immer subtileren Mitteln verhinderten, daß der Verband zu einem wirklichen Interessenvertreter der Film- und Fernsehbasis wurde. Bei vielen Mitgliedern wuchs so die Lethargie. Das Desinteresse am Verbandsleben war den „anleitenden Organen“ im ZK der SED sympathischer als Sektionsleitungen, die zum Beispiel die verlogene Medienpolitik thematisierten.

Die Reformer, die in allen Sektionen existierten und kämpften, konnten sich nicht durchsetzen. Das ist das eigentlich schwere Erbe.

Ich war ja schon vorher in diesem riesigen 80köpfigen Vorstand. Die Wahl des neuen Vorstands ist eigentlich eine Wahl der alten reformerischen Minderheit. Auch beim 5. Kongreß 1988 gab es diese Leute ja schon. Wir haben uns immer zu erkennen gegeben, das Präsidium und der Erste Sekretär wußten genau, wes Geistes Kind wer ist. Folgendes geschah 1988: Vor dem Kongreß haben wir alle unsere Wortmeldungskarten abgegeben, aber wir kamen nicht zu Wort. Wir, und mit uns noch etwa zehn andere Leute, haben immer wieder Rederecht gefordert, aber nur durch einen Trick, einen Antrag an die Geschäftsordnung, ist es gelungen, daß wenigstens ich gegen Ende noch sprechen konnte. In meinem Beitrag fiel zum erstenmal das Wort Glasnost - und auf dem Podium saßen drei Politbüromitglieder, das Gesicht zur Faust geballt. Hinterher haben wir durchgesetzt, daß in der Veröffentlichung der Kongreßmaterialien alle Wortmeldungen enthalten waren, auch die nicht vorgetragenen. Die Geschichte macht vielleicht deutlich, daß die Bewegung im Filmverband nicht erst jetzt begonnen hat.

Helke Misselwitz‘ Forderung nach Ausschluß der Verantwortlichen für die Regie des letzten Verbandskongresses wurde aber zurückgewiesen. Die Diskussion über die eigene Verstrickung wird zwar von Einzelpersonen immer gefordert, findet aber eigentlich nicht statt. Sie sagen Glasnost: Warum also nicht Namen nennen? Stichwort Vergangenheitsbewältigung...

Ich kann das Wort Vergangenheitsbewältigung kaum noch hören. Sie müssen wissen, daß ich mit der Formel aufgewachsen bin, die Deutche Demokratische Republik habe die faschistische Vergangenheit bewältigt. Erst später, als ich mich gründlicher für Geschichte interessierte, begriff ich, daß ein Volk seine Vergangenheit nicht in Zeiträumen und auf eine Weise „bewältigen“ kann, wie das Politiker für die DDR und andere für die Bundesrepublik gern in Anspruch nehmen.

Sie sprechen von der eigenen Verstrickung. Diese Verstrickung erfordert zunächst einmal die Auseinandersetzung mit sich selbst, ein Prozeß, der kompliziert genug ist und ungern vor einem großen Auditorium geleistet wird. Ich meine, daß es auch in Hinblick auf kommende Entwicklungen wichtiger ist, öffentliches Bewußtsein zu schaffen für gesellschaftliche Strukturen, die so eine wichtige menschliche Eigenschaft wie Zivilcourage verkommen ließen. Das schließt ja die Forderung nach Rechenschaft und auch rechtliche Konsequenzen nicht aus.

Zum Verband: Hat er seine Vergangenheit „bewältigt“, wenn auf einer Generalversammlung dreißig Namen genannt und fünfzehn Mitglieder ausgeschlossen werden? Was geschieht mit dem sechzehnten und siebzehnten, den man hätte hinzufügen können?

Die Diskussionen fanden auf den vorbereitenden Vollversammlungen in den einzelnen Sektionen statt. Selbstverständlich waren die Vorschläge für die Vorstandskandidaten diesmal andere als früher. Die neue Qualität des Vorstands, auch der Generalversammlung, hängt nicht davon ab, ob wir ein großes Schlachtfest veranstalten. Das ist für Außenstehende schwer zu begreifen, aber wir kennen uns untereinander: Die Leute, die jetzt davor gewarnt haben, Namen zu nennen, das sind nicht die Opportunisten, nicht in jedem Fall. Es soll nichts unter die Decke gekehrt werden, aber die eine Hälfte des Volkes kann doch jetzt nicht mit dem Finger auf die andere Hälfte zeigen, das ist doch absurd. Dieses Volk ist für die 40 Jahre gemeinsam verantwortlich. Wir haben doch vieles gewußt und mehr oder weniger gehofft, innerhalb dieser Strukturen reformieren zu können.

Gerade wegen dieser gemeinsamen Verantwortung ist die Frage nach der persönlichen Verstrickung berechtigt.

Ich akzeptiere diese Frage nicht unbedingt von jedem. Die Leute etwa, die jetzt das Köpferollen wollen, sind zum Teil genau die, die immer geschwiegen haben.

Einiges hat sich übrigens von selbst geklärt. Professor Peter Ulbrich ist nicht mehr Erster Sekretär, Lothar Bellag ist nicht mehr Präsident. Die Verantwortlichen für den früheren Zustand des Verbandes sind nicht mehr da. Und sollte doch jemand in den Vorstand gewählt worden sein, dann haben die Sektionen den Falschen gewählt.

Wer genau zugehört hatte, weiß: Helke Misselwitz benannte ein wichtiges Problem, und die Generalversammlung beschloß in ihrem Sinne die Bildung einer Kommission.

Übrigens deutet sich bereits an, daß die Arbeit dieser Kommission nicht einfach werden wird. Das hängt genau damit zusammen, daß Recherchen in einer Vergangenheit, die noch so nah ist, unglaublich kompliziert sind.

Übrigens hat die taz in ihrem Bericht vom 27.2. dem neuen Vorsitzenden und zwei Stellvertretern eine gleiche Parteimitgliedschaft zugeordnet. Mir ist es ein Rätsel, woher Ihre Kollegen diese falschen Informationen haben.

Sie sind nicht PDS-Mitglied?

Ich bin Parteimitglied. Aber es ist in diesem Zusammenhang unwichtig. Die Leute wissen das von mir, ich war ja auf dem Sonder-Parteitag zu sehen, aber Parteimitgliedschaften spielten auf dem Verbands-Kongreß keine Rolle, und ich will dafür sorgen, daß das eigentlich auch bleibt. Die Trennungslinie zog sich schon vorher weniger zwischen Parteimitgliedern und Nichtmitgliedern, sondern zwischen Demokraten und Nichtdemokraten.

Stichwort Filmbüro, Filmminister. Das von der gerade noch amtierenden Hauptverwaltung Film vorgelegte Konzeptionspapier hat ja für Streit gesorgt. Stimmt es, daß der Filmminister und seine Abteilung versucht haben, sich in ein Filmbüro hinüberzuretten? Warum wird so ein Filmbüro von den Filmschaffenden nicht selbst verwaltet?

Die erste Frage sollten Sie dem Filmminister stellen. Ob er sich oder vielleicht eher wichtige Werte unserer Filmlandschaft „hinüberetten“ wollte, ist eine Spekulation, an der ich mich nicht beteilige.

Der Minister für Kultur, Dr. Keller, hat auf unsere Forderungen folgendermaßen reagiert: 1. Es wird dieses von der HV Film vorgeschlagene Filmbüro im Ministerium für Kultur nicht geben. Zur Koordinierung staatlicher Pflichten in bezug auf das Filmwesen, zum Beispiel zur dringend gewordenen Sicherung nationaler und internationaler Festivals, wird eine Abteilung Film gegründet, deren Aufgaben und Strukturen nicht mit der ehemaligen HV Film identisch sein werden. Wer da arbeiten wird, ist wohl noch nicht klar.

2. Um den „Beschluß der Volkskammer über staatliche Pflichten zum Schutz und zur Förderung von Kunst und Kultur“ vom 7. März auf dem sensiblen Gebiet Film und Video durchzusetzen und zu kontrollieren, beruft der Minister auf Vorschlag des Verbandes unabhängige und kompetente Persönlichkeiten in einen Kontrollrat für Film und Video. Als vordringliche Aufgabe soll der Kontrollrat dafür Sorge tragen, daß strukturelle und finanzielle Maßnahmen, die das Filmwesen betreffen, daß die Umverteilung von Mitteln, die dem Filmwesen zur Verfügung stehen, und daß die Änderung von Rechtsträgerschaften nicht ohne öffentliche Diskussion, nicht ohne Beratung mit den Betroffenen und nicht ohne Zustimmung durch den Kontrollrat durchgeführt werden. Wir gehen davon aus, daß der Minister diese wichtige Verabredung umgehend realisiert.

Warum realisieren die Filmschaffenden so etwas nicht selbst? Woher rührt diese Scheu, die Regie über das Filmwesen selbst zu übernehmen?

Wir wollen den Staat ja gerade nicht aus seiner Verantwortung entlassen. Zum Beispiel soll er nach wie vor das Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmfestival tragen und finanzieren, allerdings werden wir die Zusammensetzung des Komitees für Leipzig, quasi die Legislative, beeinflussen. Wir könnten jetzt alles zerschlagen: Da steckt der Staat drin - weg damit. Wenn ich Kulturminister wäre, ich würde sagen: Ein Glück, jetzt machen die das selber. Genau das wollen wir nicht. Es gibt keine Scheu der Filmemacher, ihre Belange in eigener Regie durchzusetzen. Wir werden solche wichtigen Fragen wie Filmbüro, Subventionspolitik, Verwertung der Urheberrechte der Filmautoren, Festivalpolitik in den Mittelpunkt unserer Arbeit stellen. Das braucht Zeit für gründliches Nachdenken. Wir müssen diverse Informationsdefizite bei uns selber berücksichtigen. Ganz Schnelle und Schlaue könnten diesen Zustand nutzen, um uns übers Ohr zu hauen. Das ist bei uns so wie im ganzen Land.

Stichwort Staatsferne oder -nähe. Es gibt, grob gesagt, zwei Positionen. Die eine: Die DEFA muß eine staatliche Institution bleiben; Subventionen ja, freier Markt nein. Die andere: Auf keinen Fall staatliche Institution, auf keinen Fall Film am Tropf mit verbeamteten Künstlern; der Preis dafür war immer Zensur. Welche Position vertreten Sie?

Was das Geld betrifft, bin ich für Staatsnähe, bei den Inhalten für Staatsferne. Staatliche Subventionen für Künste, die sich ökonomisch nicht selber tragen können, dürfen nicht vom guten Willen einer Regierung abhängig sein. Deshalb treten wir dafür ein, daß die staatliche Schutz- und Förderungspflicht zum Verfassungsgrundsatz erhoben wird. Das wäre etwas wirklich Neues, sowohl für die DDR als auch für die Bundesrepublik. Und wir sind dem schon ziemlich nah. Der Beschluß von vergangener Woche legt fest, daß der Ministerrat - gemeint ist der zukünftige - ein Kulturpflichtgesetz erarbeiten muß. Die neue Regierung wird darum kaum herumkommen.

Die Verteilung der Subventionen allerdings kann nicht auch noch der Staat vornehmen. Die Gefahr politischer Einflußnahme muß ein für allemal ausgeschlossen werden. Wir werden im Verband ein Filmförderungsmodell erarbeiten, das gute und schlechte Erfahrungen unserer Kollegen in Europa berücksichtigt und damit hoffentlich Neues in die Kulturlandschaft einbringt.

Die Formel: staatliche Subventionen Film am Tropf Zensur, muß nicht für alle Zeiten stimmen.

Wie leben Sie denn damit, daß Sie ziemlich viel Geld fordern für ein Minderheitenprogramm? Künstlerischer Film, egal ob Dokumentar- oder Spielfilm, war ja nie etwas für die Massen. Godard ist kein Kassenschlager.

Kunst für Minderheiten ist kein Luxus, sondern letztendlich lebensnotwendig. Wir fordern das Geld, wir lehnen die Kontrolle ab, wir lehnen den Marktmechanismus ab; ich weiß, das klingt utopisch, und einer, der im Krankenhaus arbeitet, wird dafür wenig Verständnis haben. Aber ich halte es für Demagogie, wenn man die Forderung nach Subventionen für Kunst mit den kaputten Dächern von Krankenhäusern in Verbindung bringt. Das verschleiert auch die Ursachen der kaputten Dächer. Eine künftige Gesellschaft muß in der Lage sein, die Dächer zu schließen und Kunst zu subventionieren, auch Kunst für Minderheiten. Es ist eine Frage der Zivilisation, wo das Geld weggenommen wird. Wenn man zum Beispiel abrüstet, werden Milliarden zur Verfügung stehen. Über diese Ressource redet zur Zeit kein Mensch. Natürlich müssen wir unsere Existenzberechtigung beweisen, aber das können wir bestimmt nicht, indem wir mit kleinen Dokumentarfilmen Millionen einnehmen.

In Babelsberg wurden schon Vertreter der Leo-Kirch-Gruppe und westliche Filmindustrielle gesichtet. Viele befürchten das Ende des DDR-Filmes. Was am „typischen“ DEFA-Dok- oder -Spielfilm ist erhaltenswert, also was genau sind die Werte, die von so vielen beschworen werden?

Es gibt sicher nicht den Dokumentar- oder Spielfilm. Und doch gibt es etwas, was die Filmkunst in der DDR ausmacht. Vielleicht sind es die einfachen Leute, die wie selbstverständlich im Zentrum vieler Filme stehen, wahrscheinlich auch die Moral, mit der man sich ihnen nähert. Unsere Filme haben wenig von Voyeurismus und Eitelkeiten, und politische Verhältnisse haben uns auch gezwungen, die Bildsprache zu pflegen, das Bild also tatsächlich auch als Mitteilung zu verstehen. Und es sind die Produktionsbedingungen, die wohl ökonomisch nicht gerade effizient waren, aber in der Regel die nötige Ruhe fürs Nachdenken und Drehen gaben. Trotz Reglementierung und Zensur war der Filmbereich im Verhältnis zum Fernsehen wie eine Insel.

Die politischen Verhältnisse, die zum Pflegen dieser Bildsprache gezwungen haben, entfallen ja nun: dieses Zwischen-den-Zeilen-, Zwischen-den-Bildern-Sprechen, das, was der Dokumentarist Roland Steiner eine Art Sklavensprache nannte. Was bleibt übrig?

Ein kleines Beispiel nur, ein Film von mir, Katrin, 18 Minuten, sechs Einstellungen, ziemlich umstritten. Ein Mädchen sitzt in einer drei mal drei Meter großen Leitzentrale in einem uralten Walzwerk, in der Maxhütte, und koordiniert dort den gesamten Arbeitstag. Es gibt kein Geländer durch diesen Film, es gibt keine Pointe, wir zeigen diese junge Frau nicht am Kaffeetisch oder am Herd. Die einzige Information, die der Zuschauer erhält, ist die, daß ein 16jähriges Mädchen vom Land zum erstenmal in diesen Moloch Industrie reinkommt. Ich meine, daß damit ein Bild, eine Metapher erzeugt wird dafür, wie dieses Mädchen anfängt, sowohl Rädchen als auch Mitformer der Bedingungen zu sein, unter denen es lebt. Die 18 Minuten sind auch ein künstlerisches Dokument der Verwicklung in Arbeitsprozesse schon heute existiert dieser Arbeitsplatz so nicht mehr. Ich weiß nicht, ob so ein Film unter kommerziellen Bedingungen überhaupt noch möglich ist.

Diese Art Filme - viele DDR-Dokfilme entstanden ja in der Produktion - hat, einschließlich ihrer Sprache, Wirkung gezeigt, auch international, das muß unbedingt erhalten bleiben. Deshalb stimmt der Begriff Sklavensprache auch nicht. Es ist, glaube ich, eine Ästhetik entstanden, eine Bildsprache, die ziemlich unverwechselbar ist. Nicht daß ich unseren Produkten gegenüber unkritisch wäre. Viele Sachen sind natürlich tatsächlich Auslassungen.

Anders gefragt: Was ändert sich nun am DDR-Film?

Wir stehen an einem Neupunkt. Für uns ändert sich alles. Mein Langzeitprojekt, auch in der Maxhütte, sollte in diesem Jahr eigentlich beendet werden. Nicht daß wir die Konzeption des Films auf den Kopf stellen, aber unsere Filmheldin versagt sich. Sie war in der Volkskammer, ein sehr streitbares Mädel dort, sie will nicht mehr in diesem Zusammenhang erwähnt werden. Wir haben wahnsinnige Schwierigkeiten, ihr klarzumachen, wie wichtig es ist, weiter zu erzählen, was jetzt passiert. Außerdem ist natürlich nicht klar, wer diesen Film eigentlich mal haben will, wir haben mehrere 100.000 Mark dafür ausgegeben, im Augenblick steht er noch im Plan des Progress-Filmverleihs, aber wer weiß, wie lange dieser Verleih noch existiert.

Die Gelder für das laufende Jahr sind aber doch bewilligt. Sie könnten also, wenn Sie wollten, in aller Ruhe Ihren Film fertig machen.

Das wird ständig behauptet, daß die Gelder da sind, und ich drehe ja auch, aber kein Mensch weiß, wie lange das noch geht. Deshalb fordern wir ja, daß das so weitergeht. Wir wollen ja nicht nur - oder vielleicht wollen wir's sogar unsere Haut retten, eine feste Anstellung, das ist ja keine Schande zu sagen, wir möchten Mitarbeiter der DEFA bleiben.

Aber all diese, für ein kleines Land ja überdurchschnittlich vielen Filmemacher, werden doch wohl kaum weiter Filme machen können. Allein wieviel Dokumentaristen hat die DEFA?

Es gibt zwischen 50 und 60 Dokumentarfilmer. Das ist eine schwierige Frage. Mit Sicherheit wird sich einiges selbst regulieren. Es gibt erste Anzeichen dafür, daß einige Kollegen ausscheren. Sie gehen in die Videoproduktion oder in den Werbefilm. Es gibt auch ganz sicher bittere Entwicklungen. Es wird Kollegen geben, die keine Filme produzieren werden. Da ist vielleicht der Verband gefragt, in jedem Fall die Gewerkschaft Kunst, Kultur und Medien.

Wenn ich diese Fragen aber genau beantworten soll, überstrapazieren Sie unsere Phantasie. Wir können jetzt in erster Linie versuchen, Schaden zu begrenzen. Wir haben sofort nach dem Kongreß mit den Recherchen begonnen, beim Minister, beim Magistrat für Berlin angefragt, uns in der Filmklubbewegung umgehört, um herauszufinden, was an den Gerüchten vom Ausverkauf der Kinolandschaft dran ist. Das Bild, das sich uns bietet, ist sehr diffus. Es ist schwer zu verifizieren, wo es sich nur um Interessenten handelt und wo ungesetzliche Akte vollzogen werden.

Wie soll das verhindert werden? Gesetze, die das regeln könnten, werden ja nicht über Nacht erlassen. Flebbe soll ja angeblich schon Kinos in Leipzig gekauft haben.

Flebbe ist da und macht Angebote. Sollten tatsächlich Kinos verkauft worden sein, so ist das illegal geschehen, nehme ich zumindest an. Solche Dinge müssen rückgängig gemacht werden. Bei Überlegungen wie etwa der Umwandlung der DEFA in eine Aktiengesellschaft, der Gründung von GmbHs kann ich zur Zeit überhaupt nicht sagen, ob wir das gutheißen oder verhindern sollten.

Viele sagen jetzt: Wir haben keine Zeit. In einer solch neurotischen, hektischen Situation liegt mir daran, erst mal Ruhe zu schaffen, und sei es, den Status quo zu erhalten. Auch deshalb ist der von uns geforderte Kontrollrat so wichtig.

Soll die DEFA eine staatliche Institution bleiben?

Diese Frage habe ich geahnt. Die staatlich subventionierte DEFA soll es weiter geben. Ist das dann noch eine staatliche Institution, wenn sie gesellschaftlich kontrolliert wird und kein Machtinstrument des Staates ist? Aber auch unabhängige Produzenten sollte es geben, auch die müssen an den Subventionstopf herankommen. Das klingt alles illusorisch. Die Fragen, die Sie mir stellen, stellen wir uns unentwegt selbst: Wie soll die DEFA weiter existieren? Viele sagen: Seid vorsichtig, zerschlagt die DEFA nicht. Deshalb überlegen wir sogar, den Namen schützen zu lassen. Es handelt sich ja um ein hochkompliziertes Bedingungsgeflecht: Wie etwa wird sich die Annäherung dieser beiden deutschen Staaten vollziehen, was bedeutet das für den Filmsektor? Je länger ich über all diese Fragen nachdenke, desto mehr kriege ich das Schielen.

Das Gespräch führte Christiane Peitz