Nukleare Abschreckung in Europa überflüssig

Der Vorsitzende des US-Streitkräfteausschusses, Les Aspin, zitiert geheime Pentagon-Studie / Nato-Strategie der „flexible response“ implizit in Frage gestellt / Konventionelle Verteidigung sei möglich und ausreichend, da kaum noch Gefahr von der Sowjetunion ausgehe  ■  Aus Washington Rolf Paasch

Eine nukleare Abschreckung der westlichen Allianz gegen einen Angriff der Sowjetunion ist nicht mehr zwingend nötig. Diese Schlußfolgerung hat der Vorsitzende des Streitkräfteausschusses des US-Repräsentantenhauses, Les Aspin, aus einer bisher unveröffentlichten Studie des US -Generalstabs über die Veränderungen der militärischen und strategischen Lage in Europa gezogen. Mit seiner Infragestellung des Grundpfeilers der gegenwärtigen Nato -Strategie der „flexiblen Erwiderung“ hat der einflußreiche Aspin, selbst nicht gerade eine demokratische Friedenstaube, in den USA den offenen Schlagabtausch über nötige Abrüstungsschritte auf eine neue Stufe gehoben. Bisher war es der Bush-Administration gelungen, die Diskussion nennenswerter Abrüstungsschritte mit dem Hinweis auf eine angeblich unveränderte militärische Schlagkraft der Sowjetunion zu verhindern. Aspin erklärte vor dem Streitkräfteausschuß, der jüngste Bericht der US-Stabschefs erlaube die Schlußfolgerung, daß die veränderten militärischen und politischen Bedingungen in der Sowjetunion zusammen mit einem Vertrag über die konventionelle Abrüstung den alliierten Truppen eine rein konventionelle Verteidung Europas ermöglichen werde. Obwohl der Vorsitzende der Stabschefs, General Colin Powell, dieser Interpretation widersprach, mußte er Aspins Behauptung bestätigen, daß dem neuesten Pentagon-Bericht der übliche Abschnitt über Legitimation und Einsatz der Atomwaffen fehlt. Für den Demokraten Aspin ist damit die umstrittene, aber bereits stattfindende Modernisierung der amerikanischen Kurzstreckenraketen „Lance“, für die der US-Rüstungsetat im Jahr 1991 112 Millionen Dollar vorsieht, in Europa nicht mehr nötig. Daß mit seiner Einschätzung des Pentagon -Berichts darüber hinaus die gesamte Nato-Strategie der letzten 40 Jahre in Frage gestellt wird, erwähnte der Demokrat Aspin jedoch nicht. Das Verteidigungsszenario der Nato gipfelte aufgrund der angeblichen konventionellen Überlegenheit der Sowjetunion am Ende auf westlicher Seite immer im Einsatz von Atomwaffen. Angesichts der Sturheit von Verteidigungsminister Dick Cheney gegenüber jeglichen Maßnahmen zur Reduzierung des noch immer 306 Mrd. Dollar schweren Rüstungsbudgets war es in den letzten Wochen selbst innerhalb der Bush-Administration zu heftigen Auseinandersetzungen um die Einschätzung der sowjetischen Bedrohung gekommen. Sogar CIA-Chef William H. Webster hatte in einer Anhörung des Streitkräfteausschusses erklärt, daß die Sowjetunion selbst nach einem Sturz von Präsident Gorbatschow keine größere Bedrohung mehr darstelle.