: Erster DDR-Wahlkampf - gewalttätig und unfair
Die WahlkampfbeobachterInnen des „Unabhänigigen Kontakttelefons“ in Ost-Berlin ziehen Bilanz / Neben gewalttätigigen Übergriffen auf Linke registrieren sie vor allem Behinderungen der Parteien durch Angriffe auf Büros oder auch Abreißen von Wahlplakaten ■ Aus Ost-Berlin C.C.Malzahn
Im Bezirkssekretariat der Rostocker CDU wurden die Scheiben zertrümmert, die Geschäftsstelle des Demokratischen Aufbruchs in Berlin mit Buttersäure verpestet; das Schaufenster des Neuen Forums in Berlin Schöneweide ging zu Bruch, und von einem „mühsam zusammengesparten Werbebus“ der DSU in Rostock blieb - nachdem sich Unbekannte daran vergriffen - nur noch ein Haufen Blech übrig: Der erste freie Volkskammerwahlkampf in der DDR hat durchaus eine handgreifliche Seite.
Zwei Mitglieder des „Unabhängigen Kontakttelefons“ in Ost -Berlin stellten gestern im Haus der Demokratie vor JournalistInnen ihre im Parteienstreit gesammelten Beobachtungen vor. In der DDR-Presse hatte die parteiunabhängige Gruppe mehrfach bekanntgeben lassen, „alle Meldungen über Gesetzesverstöße und Unfairneß entgegenzunehmen“. Was die Bürgerinnen und Bürger der DDR dann hauptsächlich mitteilten, ist auch wahlkampfgeplagten EinwohnerInnen der BRD nicht fremd: Zugepflasterte Telefonzellen, abgerissene Parteiposter, von konkurrierenden Gruppen überklebte Werbeplakate. Die frischgebackenen WahlkämpferInnen trieben es aber offensichtlich noch einen Zacken schärfer als ihre Parteifreunde im Westen. So konnten mehrere öffentliche Fernsprecher nach der Säuberung von Aufklebern und Plakaten schlicht nicht mehr benutzt werden, weil die Leitungen Schaden nahmen. Das sorgte in der mit öffentlichen Telefonanlagen ohnehin nicht verwöhnten DDR bei vielen Menschen für Ärger, teilten die Sprecher des Kontakttelefons mit. Einige ParteiaktivistInnen kletterten gar auf Signalanlagen der Deutschen Reichsbahn, um ihre Werbezettel und Bilder dort anzubringen. Resultat: Die Zugfahrer konnten die Signale nicht mehr erkennen und dampften nicht selten in die falsche Richtung.
Auch gewalttätige Übergriffe waren nach Angaben des „Kontaktbüros“ keine Seltenheit. So berichteten sie von einem „Kesseltreiben gegen junge Demokraten in Neubrandenburg am Rande einer Wahlkampfveranstaltung mit Hans Jochen Vogel“. Dabei seien Protesttransparente von aufgebrachten KundgebungsteilnehmerInnen zerstört worden. Die Polizei habe zugesehen und nichts unternommen. In Einzelfällen seien in Karl-Marx Stadt auch Sympathisanten der Reps gewaltsam gegen Demonstranten vorgegangen und wären dabei von Ordnern der DSU tatkräftig unterstützt worden, wie zumindest Mitglieder der Vereinigten Linken am Kontakttelefon erzählten. Schlimme Verletzungen trug auch eine Plakatekleberin der Vereinigten Linken in Berlin davon, die nachts von rund zwanzig jungen Männern („Wir sind Reps!“) verfolgt und verprügelt worden sei.
Auch die Volkspolizei sei nicht immer korrekt vorgegangen. So wurden am Prenzlauer Berg zwei 16jährige Jungen verhaftet und mit zwei Funkwagen und zehn Polizisten auf die Wache gebracht, weil sie Plakate beschmiert hätten. Dort mußten sie mit gespreizten Beinen und hinter dem Kopf verschränkten Armen längere Zeit ausharren, obwohl ein Straftatbestand gar nicht vorlag, wie ein Polizist anschließend bestätigte. Ein Anruf bei den Eltern wurde ihnen verwehrt. Ein Sprecher der Volkspolizei entschuldigte sich gestern auf der Pressekonferenz für den Vorfall bei den Eltern.
Unklar blieb, wo die MitarbeiterInnen des „Kontakttelefons“ die Grenze zwischen Unfairneß und Satire ziehen. So listeten sie in ihrer Bilanz der schlechten Sitten auch eine Karikatur auf, die Wolfgang Schnur in einer Cola-Dose zeigt. Auch die Angriffe der konservativen „Allianz für Deutschland“ auf die SPD, in denen den Sozialdemokraten eine Unterwanderung durch die PDS vorgeworfen wird, tauchen im Register auf. Kritikwürdig halten die Wahlbeobachter auch die Einmischung von West-Politikern in den Wahlkampf der DDR.
Da das „Kontakttelefon“ nur mit Nachrichten arbeiten konnte, „die uns auch erreichen“, erhebt die Gruppe keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Trotzdem zogen sie die Bilanz: „Dieser Wahlkampf war nicht fair, die Schwelle zur Gewaltanwendung ausgesprochen niedrig.“
Noch bis zum 25.März wollen die BeobachterInnen Meldungen sammeln, um den ersten freien Wahlkampf der DDR dann „umfassend zu dokumentieren“.
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