: Das rot-grüne Fachwerkhaus Berlin
Die AL-SPD-Koalition ist seit einem Jahr im Amt und zieht Bilanz / König Momper steht im Popularitäts-Hoch und ist zufrieden Alternative Liste hat schwer zu schlucken, sieht aber keine Alternative zum Fortbestand des Bündnisses mit der SPD ■ Von Kordula Doerfler
Berlin (taz) - Weder eine „Jahrhundertchance“ noch eine „Koalition des Irrsinns“: In Berlin wird in diesen Tagen der erste rot-grüne Senat ein Jahr alt. Was in der Alltagswirklichkeit der wieder zusammenwachsenden Stadt fast unbemerkt vorübergeht, war für einzelne Senatsmitglieder, den Regierenden Bürgermeister Walter Momper (SPD), für die CDU-Opposition unter Eberhard Diepgen und die Chefkommentatoren Anlaß, Bilanz zu ziehen und in die Zukunft zu blicken.
In einem glichen sich trotz aller politischen Differenzen die Einschätzungen: Die großen Sensationen sind ausgeblieben. Weder war Rot-Grün ein Jahrhundertprojekt, wie die BefürworterInnen im Freudentaumel vor einem Jahr voraussagten, noch war es nach wenigen Wochen zum Untergang verurteilt, wie die KritikerInnen unkten und wünschten. Der Regierende Bürgermeister, der durch die Öffnung der Mauer am 9.November einen enormen Popoularitätsschub erfahren hat Markenzeichen: Glatze mit knallrotem Schal - konnte gestern durchaus selbstbewußt auf einzelne Erfolge der SPD-AL -Koalition verweisen. Als größte Leistung und auch als größtes Zeichen von Solidarität innerhalb der Koalition bewertete Momper die Umverteilung von insgesamt 1,5 Milliarden Mark im Haushalt 1990, ohne die Neuverschuldung in die Höhe getrieben zu haben. Aufgrund drastischer Einsparungen sei es gelungen, so Momper, Mittel für den sozialen Bereich bereitzustellen. „Berlin ist jetzt am Ende der Fahnenstange angekommen“, warnte Momper nochmals in Richtung Bonn. Von dort fordert er seit der Öffnung der Mauer mehr Unterstützung, da Berlin wie keine andere Stadt von den Folgen betroffen sei.
Zufrieden zeigte sich der Regierende Bürgermeister auch mit der Verkehrspolitik, dem ökologischen Stadtumbau, dem Wohnungsbau und der Bewältigung des Übersiedlerstroms (1989 kamen 63.000 Personen nach Berlin). Berlin sei jünger und moderner geworden und die Koalition viel stabiler, als alle gedacht hätten, so Mompers rosa eingefärbte Gesamteinschätzung.
Weniger euphorisch fiel die Bilanz des kleineren Koalitionspartners aus (er stellt drei von 13 SenatorInnen), der im vergangenen Jahr bei mehreren politischen Konflikten damit gedroht hatte, aus der Regierung auszusteigen. Obwohl Umweltsenatorin Michaele Schreyer gestern gemeinsam mit Momper die Vorzüge des Bündnisses pries, ist die Unzufriedenheit der AL an vielen Punkten nach wie vor groß. Als Bilanz auf der letzten Migliedervollversammlung wurde empfohlen, die Koalition weiterzuführen - nicht zuletzt aus Mangel an Alternativen - und in Zukunft mehr Profil zu zeigen. Dies dürfte ihr aber im Einzelfall gegen „König Momper“ schwerfallen. Auch die hohe Streitbarkeit, die Momper als neuen Politikstil preist, führte auf Seiten der AL immer wieder zu Niederlagen, die gegenüber der eigenen Basis vertreten werden mußten.
Von Bedeutung für die Überlebenschancen des rot-grünen Bündnisses dürfte auch sein, inwieweit sich die Positionen von SPD und CDU annähern. In der vergangenen Woche fand ein Gespräch der beiden Fraktionsvorsitzenden Staffelt (SPD) und Diepgen statt, in dem die Standpunkte in der Deutschlandpolitik angeglichen wurden. Bleibt die Koalition wie ein „Fachwerkhaus: ökologisch gebaut, es knackt im Gebälk, aber es hält“ (O-Ton Momper gestern)?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen