: Ende der Angst
Anzeichen für eine Trendwende im DDR-Wahlkampf ■ K O M M E N T A R E
Die Geschichte des ersten freien Wahlkampfes in der DDR war eine Geschichte der Angst. Angst wurde gemacht, auf Angst wurde spekuliert, Erlösung von allen Ängsten wurde angeboten - vor allem von den Bonner Routiniers der Demagogie. Dieser Wahlkampfstil und das begründete Gefühl des Ausgeliefertseins gegenüber drohender Pauperisierung durch eine Zukunft, die um so unausweichlicher ist, je hoffnungsloser die Gegenwart der bisherigen Gesellschaftsordnung erscheint, hat die Wahlentscheidung in der DDR beinahe zu einer Lebensentscheidung gemacht. Die existentielle Aufladung dieser Wahl war eine zusätzliche Quelle der Angst. Doch es scheint, daß die Politik der Angst nun auch ihre Möglichkeiten erschöpft hat. Die DDR -Bevölkerung hat lang genug die kommende Demokratie mit dem Rücken zur Wand erlebt. Wenn die Anzeichen nicht trügen, dann ist der Schnellkurs in Sachen bundesdeutscher Parteiendemokratie allmählich beendet. Die Bananen mit DSU -Aufkleber, die Kugelschreiberlawinen und die hautnahe Bundesprominenz haben mehr Verwirrung gestiftet als mobilisiert. Der Unwillen der Wahlkampfzuschauer hat zugenommen. Nach den eigenen Politikern wird mehr gefragt. Die Bundespolitiker ernten Proteste, die Wahlkommentare in den DDR-Zeitungen tendieren immer mehr zu einer ironischen Kritik am vorwegenommenen Bundestagswahlkampf. Der Versuch der politischen Enteignung durch die Bundesparteien wie auch die vorschnelle Geilheit der Ex-Haus- und Grundbesitzer aus dem Westen haben sicher eine progessive Rolle gehabt. Die Affäre Schnur überdies war nur der letzte Anlaß, sich Personen und Programme genauer anzuschauen. Die DDR entwickelt im Übergang zur Einheit so etwas wie Identität.
Solche Stimmungswechsel würden allein noch nicht viel sagen, wenn sich nicht schon politische Vorentscheidungen abzeichnen würden. Der Runde Tisch und der Ministerrat haben immerhin mit einigem Gewicht so etwas wie ein Vermächtnis der kurzen Epoche der Demokratisierung hinterlassen. Sie haben die Frage der Aneignung des Volkseigentums durchs Volk politisch entscheidungsreif gemacht. Grundlagen für einen DDR-Beitrag zu einer verfassungsgebenden Versammlung sind ausformuliert. Zwei Momente von vielen. Das wären nur dann ohnmächtige Anstrengungen, wenn die „Allianz für Deutschland“ und insbesondere die DSU einen triumphalen Sieg nach Hause bringen könnten. Nur ein derartiger Sieg würde im übrigen Kohl im Wahlkampf gegen Lafontaine nützen. Wahrscheinlicher ist eine Große Koalition unter der Führung der SPD. Sie wird den Konsens über die Interessen der DDR, die von der bisherigen Regierung der nationalen Verantwortung (Modrow-Kabinett und Runder Tisch) nicht ignorieren können und auch nicht wollen. Die DDR-Politik hat gewiß sehr spät, aber immerhin deutlich eine politische Handlungsfähigkeit zurückgewonnen. Sie hat den Wahlkampf der Angst entdramatisiert. Und auch das Wahlvolk hat gemerkt, daß es sich nicht alle Ängste leisten kann, wenn es gilt, sich gegen reale Gefahren zu wappnen.
Klaus Hartung
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen