: Der Lohn der Angst
Mit sozialdemokratischen Wahlkämpfern aus Bremen und Rostock unterwegs / Die ewige Dialektik vom großen und kleinen Bruder ■ Aus Rostock Uta Stolle
Vor der Neptunwerft in Rostock stehen drei und verteilen „Extrablatt, Zeitung für die Bürger der DDR“. Es ist kalt, der Wind pfeift durch der Männer Regenmäntel. „Die Volkskammerkandidaten Harald Ringstorff und Ingo Richter stellen sich den Eiwohnern zur Diskussion und vermitteln ihre Vorstellungen über sozialdemokratische Politik,“ hatte die Mecklenburgische Volkszeitung„ (MVZ) angekündigt, eine alte SPD-Zeitung, für deren Neuher ausgabe Ingo Richter, der auch Vorsitzender der Rostocker SPD ist, die Lizenz hat. Die Diskussion suchen 'die Einwohner‘ nun
gar nicht, vermutlich wollen sie nach Hause, aber Extra- und Info-Blatt zur Gewerkschaftspolitik der SPD wollen sie. Manche kommen extra heran, um sich eins zu holen. Der dritte Verteiler ist laut MVZ ein Herr „Wedemeyer“, auch Bürgermeister der Freien Hansestadt Bremen.
Der Süden geht an Kohl, der Norden an die SPD, weiß der DDR -Volksmund. Mehrheiten bis zur absoluten prophezeiten Umfragen unter dem DDR-Volk, dessen eigentliche Mehrheit allerdings die Mißtrauisch-Verwirrten sind, die nach ihrem begrenzten Glauben an die SED das Vertrauen zu überhaupt jeder Partei verloren haben. Zu den
Siegern von morgen gehört der vielen Neptunarbeitern unbekannte Oberarzt Dr. Richter. Der steckt ihnen angestrengt-aufgeräumt die Zeitungen zu und sagt etwas hilflos „es ist von den Sozialdemokraten“ dazu. „Die wählen CDU,“ sagt er von drei Männern mit Aktentaschen, die schweigend und ohne Informationsbedarf vorbeigehen, „die sind von der Werftleitung.“ Auch der Sieger hat Angst
Am hinteren Werfttor steht noch niemand, und Ingo Richter packt Extrablätter und Berichterstatterin ins Auto und fährt nach hinten. Wie fühlt man sich, wenn man so plötzlich angehender Wahlsieger ist? Die 50-Prozent-Prognosen stammten von einem SED-nahen Institut, sagt er. Sie seien unzuverlässig und dazu da, Ängste vor einer neuen überwältigenden Mehrheitspartei in SED-Nachfolge zu schüren. Richter ist erschrocken, wie die gemeinsame Opposition gegen die 40-jährige SED-Herrschaft zerfallen ist, und wie die „Allianz für Deutschland“ die SPD zum „PDSPD„-Hauptfeind aufbaut.
Etliche seiner Kollegen in der Klinik, die ihn vor wenigen Wochen zur Kandidatur für die SPD ermuntert hatten, sind inzwischen zur CDU umgeschwenkt. Und da ist noch etwas. Er findet anonyme Briefe im Kasten. „Tritt zurück oder wir schlagen Dich zusammen,“ steht darin. Oder: „Wir kennen Deinen schmutzigen Lebenslauf.“ Richter spielt das lieber herunter, genauso wie Leute vom Neuen Forum eher verlegen mit den Bombendrohungen gegen ihre Versammlungen
umgehen. Die Leute hier sind ja völlig durcheinander, sagt er, als das Mikrophon nicht mehr mithört. Einerseits fragen sie: Was sollen wir tun und wenn man was tut, sagen sie, die gebärden sich wie die SED. Er senkt die Stimme, obwohl uns im Auto ohnehin niemand hören kann, Da ist etwas am Brodeln, das ist kurz vor dem Umkippen in die Gewalt hier, denken Sie an meine Worte. Es müsse schnell etwas passieren. Damit meint er die schnelle Vereinigung mit der Bundesrepublik.
Auch Richter, der Sieger von morgen, als Beute der Angst, im gefährlichen Brodeln der Post -Staatssicherheitsgesellschaft unterzugehen und der Panik, Zielscheibe der fluktuierenden Aggression zu werden, die Kohls „Allianz für Deutschland“ von der SED auf die SPD überzuleiten versucht. Die Hilflosigkeit verstärkt die Fixierung auf den Bruder im Goldenen Westen.
Wedemeier ist immer der Größte
Gemeinsam mit dem Wahlhelfer Wedemeier machen die Mecklenburger VolkskammeraspirantInnen dann noch mehrere Veranstaltungen. Auf der Pressekonferenz im Hotel Warnow betont der Bremer Bürgermeister die Autonomie der Brüder im Osten: „Wir aus der Bundesrepublik haben die Freiheit nicht erkämpft und auch persönlich nichts beigetragen.“ Und: Daß die Ost-SPD Politik so wie die der Allianz in Bonn gemacht werden, „diesen Eindruck muß man vermeiden.“
Aber es gibt andere Eindrücke. Ingo Richter ist schon ungewöhnlich groß, aber der Helfer aus dem
Westen ist noch größer, sein braunes Jackett ist eleganter, seine Stimme, - zuhause oft blechern -, ist sicherer und trägt weiter. Abends in der fast leeren, von der SPD-Ost auf keinem Plakat oder sonstwie angekündigten Aula in der Klinik für Innere Medizin ist der Applaus bei seinen Beiträgen größer. Und bei den kniffligen Fragen hat natürlich er die richtungsweisenden Erfahrungen auf Lager. Drohende Arbeitslosigkeit auf den Werften? Sozialversicherung, Qualifizierungsprogramme und mittelständische Metallbetriebe aufbauen, in denen sind die meisten der 10.000 in Bremen abgebauten Werftarbeiter auch untergekommen. DDR-Bankrott? Sollen sie sich von „solchen Idioten wie Teltschik“ nicht einreden lassen. Die DDR mit ihren hungrigen Märkten und qualifizierten Leuten ist gut für Investitionen und einen baldigen Aufschwung. Der strahlt einen hemdsärmeligen
Optimismus aus, den man ihm abnimmt und bitter nötig hat.
Warum, hatte ich Ingo Richter im kalten Auto gefragt, haben die Sozialdemokraten sich nicht an den Beschluß des Runden Tisches gehalten, den Wahlkampf ohne die Idole und starken Männer aus dem Westen zu machen. „Wir denken gleich und wir fühlen gleich, wir Sozialdemokraten in Ost und West,“ hatte er geantwortet. Einen kleinen Unterschied zwischen denen aus West und denen aus Ost hatte er dann doch beschrieben, als das Mikrophon aus war: Die Westler, auch seine sozialdemokratischen Freunde, könnten sich gar nicht vorstellen, was der Wahlkampf für sie hier bedeute. Die kämen ausgeschlafen her und führen dann zurück in ihr sicheres Eck, während sie bis vier Uhr nachts unterwegs am Kopierer oder sonstwo stünden und morgens anonyme Briefe fänden. „Und wir“, sagt der Kinderarzt, „wir laufen uns hier 'nen Wolf.“
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