: Nur China fehlt beim Medienrummel
■ Am Sonntag DDR-Wahlkampf auf allen Kanälen / Versuch einer Programmerläuterung
Fernsehjounalisten aus 33 Ländern sind angereist zur längsten Wahlsendung in der ZDF-Geschichte, wie Peter Siegloch, ZDF-Wahlstudiochef, betont. Auch die Journalisten hat längst ein fieberhafter Pioniergeist ergriffen. „Das, was für die Amerikaner die Mondlandung war, ist für uns diese Wahl“, rechtfertigt ARD-Chefredakteur Martin Schulze den wahnwitzigen Medienrummel. Die Sender geben Millionen aus, um am schnellsten, umfassendsten und aktuellsten von diesen ersten freien Wahlen in der DDR zu berichten. Nur China hat bislang noch kein Interesse bekundet.
ARD und ZDF haben jeweils ein großes Studio mit Monitoren, Prominententreff und seperatem Rechenzentrum für die Demoskopen in der Mitte des Ostberliner Palasts der Republik errichtet. Etwas abseits, dafür aber mit Blick auf Alexanderplatz und Fernsehturm, sitzen im weitaus bescheidenerem Ambiente die Wahlberichterstatter des Deutschen Fernsehfunks (DFF), wie sich das DDR-Fernsehen seit letzter Woche nennt. Die Ü-Wagen der Sender sind in der ganzen Republik postiert und werden in einem einzigartigen Joint-venture von allen drei Anstalten gemeinsam benutzt. Die ARD sendet sogar aus einer NVA-Kaserne. Dazu werden prominente Lokalitäten besetzt und Wahltreffs abgehalten. Hanns Joachim Friedrichs lädt Politprominenz ins Restaurant Spreeblick, Günter Jauch veranstaltet eine Party im Berliner Ballsaal, Sat1 hat seine Zelte im Palasthotel aufgeschlagen, und RTL plus berichtet aus dem Theater im Palast der Republik.
Gar nicht zu reden von den Hörfunksendern. Die ARD -Anstalten einigten sich auf eine gemeinsame Wahlsendung, die von HR koordiniert wird, natürlich auch live aus dem Palast und mit Korrespondenten überall im Lande. Der Deutschlandfunk, der sich ebenfalls im Palast der Republik eingerichtet hat, und der Berliner Rias machen ihr eigenes Wahlprogramm, als Konkurrenz zum DDR-Radio-Wahlabend. Der DDR-Jugendsender DT 64 veranstaltet im Haus der Jungen Talente eine große Wahlparty.
Für welches Medium und welchen Kanal soll man sich angesichts dieses Überangebots nun entscheiden? Grundregel Nummer eins: Alle jene, die diesem Wahltrubel nichts abgewinnen können, lassen ihre Empfangsgeräte am Sonntag abend am besten ausgeschaltet und gehen ins Kino. Allenfalls die dritten Fernsehprogramme bieten zur Abwechselung noch „normales“ Programm. Auch die Tutti-Frutti-Fans brauchen nicht weinen. RTL plus verzichtet auch an diesem historischen Wahltag nicht auf die Ausziehshow und schiebt später auch noch die Sexy Folies nach. Sat1 feiert zwischen den Wahlberichten ein fröhliches Festival der Volksmusik. Die ARD mischt Sportberichte unter ihre Wahlreportagen, nur das DDR-Fernsehen will fünf Stunden „hartes, politisches Programm“ pur bieten.
Grundregel Nummer zwei (für alle, die eine Wahlparty vor der eigenen Glotze veranstalten wollen): Los geht's auf allen Kanälen um 17 bzw. 17.55 Uhr. Ab 18 Uhr werden erste Umfrageergebnisse präsentiert. Mit den ersten Hochrechnungen rechnen die Demoskopen gegen 19.30 Uhr. Die sind allerdings noch sehr vage, weil die Forschungsinstitute nicht auf Vergleichsdaten aus vorangegangenen Wahlen zurückgreifen können. Der DFF, der zusammen mit der ARD vom Infas-Institut beliefert wird, gibt neben deren Hochrechnungen noch die offiziellen Ergebnisse der Wahlkommissionen bekannt, sobald zehn Prozent der Stimmen ausgezählt sind.
Mit den genauen Endergebnissen wird erst ab 23.30 Uhr gerechnet, möglicherweise aber auch noch später, denn keiner weiß, wie schnell die Wahlhelfer mit dem Stimmenzählen vorankommen. Einen zusätzlichen Unsicherheitsfaktor stellt das tückische Telefonnetz der DDR dar, über das alle vorläufigen und endgültigen Ergebnisse letzlich übermittelt werden müssen. Sogesehen wird es sicher ein spannender Wahlabend mit widersprüchlichen Ergebnissen, Pannen und Unwägbarkeiten.
Natürlich wird auch jede Menge Politprominenz aus Ost und West aufgeboten, die von einem Studio zum nächsten weitergereicht werden. ARD, ZDF und DFF organisieren um 21.30 Uhr eine gemeinsame Berliner Runde mit den DDR -Spitzenpolitikern und dann um 22.15 Uhr die obligatorische Bonner Runde. Hajo Friedrichs erwartet in seinem Wahltreff um 20.35 Uhr illustre Gäste wie Rudolf Augstein, Oskar Lafontaine, Franz Beckenbauer, Alice Schwarzer, Otto Schilly sowie entsprechende DDR-Prominenz. Günter Jauch hat „Miss Ost-Berlin“ und Udo Lindenberg mit auf der Gästeliste.
Für eine pikante Nichtbegegnung will das DFF sorgen. Das DDR-Wahlstudio hat sowohl Günther Guillaume als auch Willy Brandt geladen. Jedoch, und auch hier unterscheiden sich DDR -Journalisten noch von ihren westlichen Kollegen, sie haben beiden auf ihren Wunsch hin versprochen, eine Begegnung zu vermeiden.
Utho
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