: Wer erbt die Aktenberge der Staatssicherheit?
Noch ist unklar, ob es nach den Wahlen in der DDR einen Verfassungsschutz nach bundesdeutschem Vorbild geben wird / Die Frage einer Stasi-Nachfolge entzweit Parteien und Bürgerkomitees / Immerhin steht die Stasi dicht vor ihrer endgültigen Auflösung, auch die Auslandsaufklärung soll noch in diesen Tagen geschleift werden ■ Von Wolfgang Gast
Das frühere Ministerium für Staatssicherheit (MfS) ist weitgehend aufgelöst. Das Erbe der unheimlichen Behörde, die rund vierzig Jahre lang die Bürger in der DDR nahezu flächendeckend überwacht und ausspioniert hat, ist beträchtlich: 18 Kilometer Akten, in denen zum Teil intimste Details aus dem Leben der Überwachten festgehalten wurden; Millionen von Datensätzen, die den schnellen elektronischen Zugriff auf die Dossiers von sechs Millionen DDR-Bürgern erlaubten, und eine nicht genau bekannte Zahl von Agenten, die für das MfS im Ausland vorwiegend Wirtschaftsspionage betrieben. Eine weitere Hinterlassenschaft des „VEB Guck, Horch und Greif“ an die DDR-Bevölkerung: die Furcht vor einem neuen, wie auch immer gearteten Geheimdienst.
Als Ministerpräsident Hans Modrow am 1.Februar vor der Ostberliner Volkskammer seine Erklärung zu „Deutschland, einig Vaterland“ abgab, sahen die Mitarbeiter der Bürgerkomitees, die seit Jahresbeginn die Auflösung des MfS und seiner Nachfolgebehörde „Amt für nationale Sicherheit“ (Nasi) überwachen, die Dämme brechen. Plötzlich stellte sich für sie die Frage, was mit den Akten und Aufzeichnungen des MfS passieren soll, wenn in absehbarer Zeit die beiden deutschen Staaten in einer Nation aufgehen sollen. Sollte die Zerschlagung des Kraken Stasi damit enden, daß nun ein bundesdeutscher Verfassungsschutz sein Wirkungskreis bis an die Oder ausdehnt und die von der Stasi erschnüffelten Datensammlungen in den Fundus von VS und BND eingehen?
Ist unbefugter Zutritt zu den Akten auszuschließen?
Unter den Bürgerkomitees und der Arbeitsgruppe Sicherheit am Runden Tisch herrschte bis zu diesem Zeitpunkt Einigkeit, die Hinterlassenschaften des MfS vorläufig nur zu sichern. Sie sollten für die spätere geschichtliche und juristische Aufarbeitung zugänglich bleiben. Einen unbefugten Zugriff Dritter galt es dabei auszuschließen.
Angesichts der Perspektive eines baldigen geeinten Deutschlands und der damit möglichen Übernahme bundesdeutscher Polizei- und Verfassungsschutzgesetze forderten die Mitglieder der Bürgerkomitees zunehmend die Vernichtung der illegal beschafften Unterlagen. „Die Sicherung dieses Materials vor unbefugten Zugriff, insbesondere durch bundesdeutsche Geheimdienste, ist künftig nicht mehr zu gewährleisten“, erklärte schon am 15.Februar die Kontrollkommission zur Auflösung des MfS/Nasi in Schwerin. Die Einheit beider deutscher Staaten „wird zwangsläufig die Bildung einheitlicher Geheimdienste mit sich bringen“. Gemeinsam mit dem Regierungsbeauftragten in Bezirk Schwerin forderte das Komitee daher, „den Informationsbestand des ehemaligen MfS gezielt zu reduzieren“.
Mit Beschluß des Ministerrates wurde schließlich am 26.Februar in einem Drei-Stufen-Plan mit der Löschung der elektronischen Datenträger begonnen. Nach dem Abschlußbericht der Arbeitsgruppe Sicherheit des Runden Tisches Anfang dieser Woche soll die „dreifache Löschung der Datenträger mit personengebundenen Daten“ am 10.März abgeschlossen worden sein. Das Mißtrauen gegenüber Perfektionismus und dem Sicherungswahn der früheren Spitzelbehörde ist bei den ehrenamtlichen Stasi-Auflösern derart ausgeprägt, daß gegenwärtig auch die elektronischen Speichermedien physisch vernichtet werden: Magnetbänder, Disketten und Wechselplatten wandern unter den Augen von Bürgerkomitees und Staatsanwälten in die Verschrottungsanlagen. Das Aluminium der Plattenspeicher soll künftig als Eß-Besteck recycelt, der Kunststoff für die Herstellung von Einkaufsnetzten wiederverwendet werden.
Kritiker der Vernichtungsaktion haben dagegen wiederholt darauf hingewiesen, daß unter Umständen wertvolle - auch gerichtlich verwertbare Unterlagen gelöscht worden sein könnten. Angesichts der Hektik sei es nicht mehr möglich gewesen, die elektronischen Datensätze und die Papierakten auf Vollständigkeit hin zu vergleichen.
Mit der Löschung der elektronischen Speicher wird nur der schnelle und direkte Zugriff auf detailierte Auskünften über Privatpersonen und Personengruppen unterbunden. Über eine Handkartei, ähnlich der bundesdeutschen Meldeämter vor Einführung elektronischer Datenverarbeitungsanlagen, lassen sich Hinweise auf Decknamen von Spitzeln und Bespitzelten finden. Eine Kennzeichnung auf diesen Karteikarten führt dann zum genauen Fundort der einzelnen Dossiers in der 18 Kilometer langen Aktenschlange.
In einer zweiten Stufe sollen alle Verzweigungen der Personendateien beseitigt werden. Übrig bliebe dann ein einziger Weg von der Kartei direkt zur jeweiligen Personenakte. Damit sei sichergestellt, so der Koordinator der Bügerkomitees in den Bezirken, Thomas Schmidt, daß im Falle eines unbefugten Zugriffs der Zugang zu den Akten sofort unterbrochen werden könnte. In einer letzten Stufe sollen - vorbehaltlich einer Entscheidung der neuen Regierung - alle Akten und Karteien mit personenbezogenen Daten endgültig vernichtet werden.
Übernahme ganzer Abteilungen
„Wachsamkeit und ein gesundes Mißtrauen sind auch in Zukunft berechtigt“, warnte der Regierungsbevollmächtigte und Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Sicherheit, Werner Fischer, als er am vergangenen Montag den Abschlußbericht zur letzten Sitzung des Runden Tisches vorstellte. Die Befehlszentralen und die Verwaltung der Staatssicherheit seien zwar aufgelöst, es könne aber nicht ausgeschlossen werden, daß „kleine Gruppen noch aktiv sind“. Unklar sei ebenso, „ob noch Strukturen existieren, die uns nicht bekannt sind“. Das gelte vor allem für den wirtschaftlichen, den militärischen und den wissenschaftlichen Bereich.
Ein anschauliches Beispiel dafür, wie entgegen allen Abmachungen zwischen Regierung und Rundem Tisch ganze Stasi -Abteilungen unbehelligt weiter existieren, fanden die Bürgerkomitees bei der Umwandlung mehrerer Stasi-Betriebe zur Herstellung von Spionagetechnik in einen „VEB Wissenschaftlicher Gerätebau“. Die Zulieferbetriebe waren am 13.Januar via Ministerratsbeschluß kurzerhand zusammengefaßt und dem Wissenschaftsministerium unterstellt worden. Die Namensschilder an den Pforten wurden ausgewechselt, ein Betriebsdirektor bestellt und ein zehnköpfiger Leitungskader eingesetzt. Die 1.500 Mitarbeiter der High-Tech-Firma waren allesamt vorher für das MfS tätig.
Daß vollständige Stasi-Abteilungen von anderen Ministerien übernommen und damit die Abmachungen unterlaufen werden, zeigte sich auch am Beispiel des Ministeriums für Innere Angelegenheiten (MfIA), vormals „Misterium des Innern“. Durch die Übernahme neuer Aufgaben wurde die Schaffung von insgesamt 9.923 Planstellen erforderlich, argumentierten die MfIA-Vertreter. 3.140 der neuen Planstellen müßten mit ehemaligen Experten des MfS besetzt werden: für die Abteilungen Personenschutz, „Antiterror-Kräfte“ und das „zentrale Chiffrierorgan“. Da die geheimen Nachrichtenverbindungen der früheren DDR-Regierung ebenfalls von der Stasi sichergestellt wurden, ist die komplette Abteilung mit 720 Mitarbeitern schlichtweg ins MfIA übernommen worden. So wurden auch die Fachkräfte des MfS in das Ministerium geschaufelt, die zu Zeiten Honeckers das hochgradig gesicherte interne Telefonnetz der früheren Partei- und Staatsführung funktionsfähig hielten. Nicht wenigen der Mitglieder der Bürgerkomitees kommt da der Verdacht, daß im Innenministerium bereits an den Strukturen für einen neuen Geheimdienst a la Verfassungsschutz gearbeitet wird.
DDR-Verfassungsschutz?
Braucht die DDR Sicherheitsbehörden nach bundesdeutschem Vorbild? Die Frage entzweit Parteien, Bürgerkomitees und Oppositionsgruppen. Unstrittig ist, daß es nach den Erfahrungen mit der Staatssicherheit keine Nachfolgebehörde geben darf, die die Bürger im eigenen Lande ausspioniert. Doch schon an der Frage, ob zur Terrorismusbekämpfung, zur Überwachung anwachsender rechtsextremistischer Gruppen oder zur Spionageabwehr ein Geheimdienst notwendig ist, scheiden sich die Geister. Wo die eine Seite einen demokratisch überwachten Verfassungsschutz als notwendige Behörde zur Abwehr verfassungsfeindlicher Bestrebungen reklamiert, befürchten die anderen, daß auch in einem demokratisch legitimierten DDR-Staat oppositionelle Gruppen zwangsläufig ins Visier eines solchen Dienstes geraten werden.
Noch steckt aber die Diskussion über einen „Verfasungsschutz“ in den Anfängen - zu sehr sind die Mitarbeiter der Bürgerkomitees zunächst einmal mit der Auflösung des MfS beschäftigt, dessen gigantische Ausmaße sie vor dem „Sturm mit Phantasie“ auf die Hauptzentrale in der Ostberliner Normannenstraße am 15.Januar nicht erahnen konnten.
Selbst bundesdeutsche Verfassungsschützer bezweifeln, daß sich angesichts der Erfahrungen mit der Stasi in der DDR bald ein Verfassungsschutz aufbauen läßt. Dort wächst daher auch die Neigung, die sogenannten Sicherheitsbereiche den Polizeibehörden und dem Innenministerium zuzuschlagen. Mit der Übernahme der „Antiterror-Kräfte“ in das Innenministerium hat die Regierung Modrow bereits den ersten Schritt in diese Richtung getan. Die möglichen Folgen einer quasi „Geheimpolizei“ mit exekutiven Befugnisse werden zur Zeit allerdings wenig thematisiert.
Auflösung der Auslandsspionage
Auch die letzte Bastion des Staatssicherheitsdienstes, die „Hauptverwaltung Aufklärung“ (HVA) soll in diesen Tagen geschleift werden. Der Auslandsnachrichtendienst, der im Bereich der Wirtschaftsspionage jährlich Erkenntnisse im Wert von 200 Millionen Mark einfuhr, widerstand den Auflösungsbestrebungen am längsten. Um die Mitarbeiter des Geheimdienstes im Ausland zu schützen, war die HVA auch der Kontrolle der Bürgerkomitees entzogen worden. In einem Stufenplan soll nun - nach langen und zähen Debatten am Runden Tisch - diese Refugium abgeschafft werden.
Dreiviertel der etwa tausend Mitarbeiter werden bis Mitte März entlassen. Die verbleibenden 250 sind verpflichtet worden, die Auflösung konsequenter vorantreiben. Im Juni soll der Prozeß soweit fortgeschritten sein, daß die HVA als nicht mehr existent betrachtet werden kann.
Ein besonderes Interesse an dieser Abteilung zeigen der bundesdeutschen Verfassungsschutz und der Bundesnachrichtendienst (BND). Zu gerne hätten die Geheimen (West) Auskünfte über die Agentennetze (Ost) und Einblick in die Verbindungstrukturen des früheren MfS zum sowjetischen KGB, für den die HVA arbeitsteilig die Spionage in der Bundesrepublik betrieb. Unisono bedauern die bundesdeutschen Verfassungsschützer, daß mit der Zerschlagung der Stasi kein einziger hochrangiger HVA-Agent den Weg zu den BRD-Diensten gefunden habe. Selbst die Festnahme mehrerer Spione im Bundesgebiet führte nicht zum gewünschten Erfolg: Die Verfassungsschützer hatten erwartet, daß sich anschließend wenigstens einige Agenten stellen würden - verunsichert durch den Zusammenbruch der Zentrale und mit der Befürchtung im Nacken, durch Überläufer enttarnt zu werden.
Das Stillschweigen der HVA-Mitarbeiter ist aber auch innerhalb des Ostberliner MfS-Gebildes am hartnäckigsten. Die Mitarbeiter der Arbeitsgruppe Sicherheit beanstandeten wiederholt die mangelnde Koopererationsbereitschaft der Führungsoffiziere in der Ostberliner Normannenstraße, von der aus die Spionageaktivitäten gesteuert wurden. Und überall dort, wo die Stasi-Kontrolleure den Bereich der Zusammenarbeit mit dem KGB tangierten, wurden sie kurzerhand mit der Formel „sowjetische Sicherheitsinteressen“ abgewiesen.
Um zu verhindern, daß der KGB, wie befürchtet wird, die DDR -Agenten in der Bundesrepublik übernimmt, sollen die Bonner Behörden zur Zeit mit der Regierung in Ost-Berlin verhandeln. Der Hamburger VS-Chef Christian Lochte äußerte in der letzten Tagen mehrfach den Verdacht, der frühere DDR -Spionagechef Markus Wolf arbeite an einer Übergabe seines Lebenswerkes an den KGB.
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