: Wahlfrage
Überlegungen am Tag davor ■ K O M M E N T A R E
Die Spannung vor der DDR-Wahl kann mit keiner anderen Wahl verglichen werden. Nicht nur, weil es eine Premiere ist, nicht nur, weil trotz aller Umfragen der DDR-Wähler ein unbekanntes Wesen geblieben ist. Nein, die DDR-Wahl wird kaum etwas über politische Meinungen und Strömungen in der Bevölkerung aussagen; sie wird eher zeigen, wieviele Anteile DDR und wieviele Anteile ideeller Bundesrepublik sich in diesem Lande mischen. In diesem Sinne wäre nur ein triumphaler Wahlsieg der „Allianz für Deutschland“ und insbesondere der DSU so etwas wie ein klares Wahlergebnis. Das wäre der Sieg der dagebliebenen Übersiedler, mit der Parlamentärsfahne voran.
Jedes andere Ergebnis, selbst ein ganz und gar unwahrscheinlicher Sieg der PDS, drückt nur eine vage Grundsätzlichkeit aus; die nämlich, daß mit der DDR-Politik zu rechnen ist. Die DDR-Wahl ist nicht der Abschluß einer politischen Willensbildung, sondern ihr Anfang. Bei der Wahl morgen sind die wichtigsten Fragen ungeklärt: Die Parteiprogramme sind eher Richtungsaussagen und Wunschlisten. Was in den Programmen an bundesrepublikanischen Konsensdefinitionen eingelagert ist, läßt sich kaum genau ermessen. Die Programme sind auf jeden Fall deswegen ganz und gar unkonkret, weil sie nicht ansatzweise auf einen künftigen Haushalt bezogen sind. Ohnehin ist die Frage des DDR-Haushaltes denkbar ungeklärt. Die meisten Parteien stehen - mehr oder weniger - für soziale Marktwirtschaft, für Währungsunion, für die deutsche Einheit. Aber über die Prioritäten und die Zeitpläne wird in Zukunft entschieden. Die Wahlfrage war ja abstrakt und demagogisch schief: Sturzgeburt oder Prozeß. Zudem waren die DDR-Parteien genaugenommen bloße Wahlkampforganisationen. Für eine demokratische Willensbildung innerhalb der Parteien blieb kaum Zeit. Die Parteivorstände rätseln eher über die Meinung der Basis, und umgekehrt fragt sich die Basis der vermutlich großen Parteien, was die Vorstände wohl unabhängig von der Bonner Richtlinienkompetenz eventuell wollen. Die Bonner Interventionen waren überdies so massiv wie auch konfus. Nibelungentreue, Schulterschluß und Gleichtrittmarsch zur Einheit funktioniert schon deswegen nicht so recht, selbst wenn's gewünscht wird. Denn im Wahljahr '90 hat sich schon gezeigt, welchen taktischen Zick -Zack-Kurs die Bundesparteien in der Deutschlandpolitik fahren. Ob aus dieser Erkenntnis Konsequenzen gezogen werden, hat weniger mit den Prozenten zu tun. Nicht Parteien, sondern Personen stehen in der DDR gegenwärtig für eine klare und glaubwürdige Interessenspolitik. Namen wären da Ullmann, Poppe, Modrow, unter anderen - aber die gehören wahrscheinlich eher nicht zu den Wahlsiegern.
Klaus Hartung
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