: Primat der Taktik: Die Bonner SPD und die DDR-Wahl
Die wahlstrategischen Überlegungen der West-Sozialdemokraten richten sich auf die Zwischenwahlzeit / Ein Wahlsieg der konservativen „Allianz“ käme manchem SPD-Taktiker gar nicht so ungelegen / Mangels eigener Konzepte soll es im Westwahlkampf vor allem um das Ausnutzen deutsch-deutscher Stimmungslagen gehen ■ Aus Bonn Charlotte Wiedemann
„Taktisch könnte es im Hinblick auf die Bundestagswahl sogar besser sein, wenn die Allianz die Nase vorne hat.“ Eine Überlegung, wie sie vor der DDR-Wahl bei Sozialdemokraten -West angestellt wird, natürlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Und wer sie ausspricht, fügt sogleich das Gegenargument hinzu: „Psychologisch wäre natürlich ein Wahlerfolg unserer Genossen drüben ein wichtiges Signal für die Wahlen hier.“ Kein Zweifel, wenn sich Taktik und Psychologie so widersprechen, ist die Lage kompliziert.
Die Taktik: Bundeskanzler Kohl soll im Vorfeld der Bundestagswahlen innenpolitisch in die Klemme kommen, so lautet das Hauptziel seines Konkurrenten Oskar Lafontaine. Der Kanzler darf also Gelder für die DDR nicht verweigern können mit dem Hinweis auf eine „sozialistische“ Alleinregierung von Ibrahim Böhme in Ost-Berlin. Säßen Kohl hingegen als Verhandlungspartner seine Günstlinge aus der „Allianz“ gegenüber, müßte er seine finanziellen Hilfeversprechungen wahrmachen - und woher dann das Geld nehmen, wo er doch den Rüstungsetat nicht schmälern will und Steuererhöhungen nach eigenem Bekunden ausschließt?
Wenn bundesdeutsche Sozialdemokraten unter diesem Blickwinkel sogar einem - durchaus unwahrscheinlichen Wahlsieg der „Allianz“ Positives abgewinnen können, zeigt sich daran das ganze Ausmaß der gesamtdeutschen Taktiererei. Realistischer mag folgende Überlegung sein: Aus den genannten Gründen solle eine SPD-geführte DDR-Regierung einem Zögling Kohls das Wirtschafts- oder Finanzressort antragen. Vorrausetzung dafür müßte nicht unbedingt eine formelle große Koalition sein, sondern Entscheidungen könnten auch „ad personam“ gefällt werden - insbesondere wenn das konservative „Allianz„-Bündnis nach dem Wahltag wieder zerfällt.
Wie immer die Sandkastenspiele vor diesem Sonntag aussehen: Das Wahlergebnis im anderen deutschen Staat ist für die hiesigen Sozialdemokraten vor allem eine Vorlage, um das Terrain für die heimische Wahlschlacht abzustecken. Denn so oft auch das Schlagwort von den „traditionellen sozialdemokratischen Hochburgen“ im östlichen Deutschland bemüht werden mag - auf die prinzipielle Frage, welche Partei im künftigen Gesamtdeutschland eine strukturelle Mehrheit haben wird, werden die morgigen Zahlen kaum eine endgülige Antwort geben. Eher wird dem Wahlergebnis ein Übergangscharakter beigemessen. Erst in vier Jahren, so schätzt zum Beispiel die SPD-Geschäftsführerin Anke Fuchs, hätten sich die strukturellen Folgen der deutschen Vereinigung so bemerkbar gemacht, daß das Wählerverhalten beständigere Meinungen statt tagespolitische Stimmungen ausdrücken würde.
Diese Schlußfolgerung könnte allerdings auch für die westdeutsche Szenerie gelten. Um Stimmungen gegenüber der deutschen Einheit wird es beim Bundestagswahlkampf gehen, und Oskar Lafontaine will sie populistisch auf seine Mühlen lenken. Das Lauern im Hinterhalt könnte dafür die günstigste Position sein - wie die taktischen Überlegungen zur DDR-Wahl zeigen: Auf Kohls Fehler setzen, seine Ungereimtheiten ausnutzen. Eine andere Position kann die SPD mangels eigener politischer Konturen auch gar nicht einnehmen. Trennt sie doch von den deutschlandpolitischen Konzepten der Bundesregierung kaum mehr als die polnische Westgrenze. Für den sogenannten Beitritt der DDR nach dem Grundgesetz -Artikel 23 haben sich die Sozialdemokraten geöffnet; eine Nato-Mitgliedschaft des künftigen Deutschlands lehnen sie nicht mehr ab; und auch in der Sozialpolitik hat Lafontaine mit seiner Kommission „Fortschritt 90“ jetzt Farbe bekannt: Keine Grundsicherung für Arme und Alte, weil zuerst die Wiedervereinigung bezahlt werden muß.
So hat sich der vorherige Eindruck, Lafontaine wolle die sozialen Interessen der Bundesbürger gegen die Folgen der Einheit verteidigen, in sein Gegenteil verkehrt. Die kommende staatliche Vereinigung gerät den Sozialdemokraten nun zur günstigen Gelegenheit, Parteitagsbeschlüsse und soziale Versprechen nicht wahrmachen zu müssen. „Strukturell kann man doch jetzt gar nichts mehr ändern“, so verteidigt ein Präsidiumsmitglied schon vorab Sparsamkeit und Spärlichkeit eines sozialdemokratischen Regierungsprogramms.
Wer so wenig Strategie anzubieten hat, muß schon zum Primat der Taktik greifen. Und deren oberstes Gebot lautet: Sich nicht vorzeitig festlegen. Dies gilt für die Zusammensetzung der künftigen DDR-Regierung ebenso wie für deren Entscheidungen. Denn so groß die Einflußnahme der West-SPD auf das Geschehen in der DDR von Beginn an war - wenn es zu begründen gilt, warum die Aussage von gestern heute keinen Bestand mehr hat, dann gibt es ein Argument, das keinen Widerspruch duldet: Die drüben wollen es nicht anders, die machen doch Selbstbestimmung.
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