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Lieber rote Rüben als Kohl von drüben

■ Wahltag am Prenzlauer Berg: Lange Schlangen vor Eisdielen, kurze vor Wahllokalen

Der Helmholtzplatz im Herzen des Prenzlauer Bergs liegt in der Sonne. Rentner sitzen auf den Bänken, die Kinder schaukeln auf den Wippen und die längsten Schlangen stehen vor der Eisdiele. Ein sonny afternoon, ein Geschenk des Himmels und ein besonderer Tag. Es wird gewählt.

Das Wahllokal 300 in der Lychenerstraße, eingeklemmt zwischen Kohlenhandlung und Fruchtbörse, wäre zu übersehen, wenn nicht zwei Polizisten gegenüber stünden. Sie langweilen sich, das Wahllokal gehört zu den ruhigsten im ganzen Bezirk. Rund 550 Wähler sind in den Wahllisten eingetragen, wenig, denn jede 10. Wohnung steht hier leer, die Mieter leben im Westen. Der Wahlvorstand besteht wie in allen Wahllokalen aus mindestens sieben Personen, viel haben sie nicht zu tun, der „Ansturm“ verebbte gegen Mittag, es lockte das „Jrüne“. Hier kennt jeder jeden, das Wahlgeheimnis ist ein offenes, mit einer sicheren Allianz-Mehrheit wird gerechnet, in der Lychenerstraße wohnen viele Rentner. Ina Kochen ist eine von ihnen, sie wohnt im dritten Stock Hinterhaus, vom Kohlenschleppen hat sie genug, sie will einen Fahrstuhl und deshalb wählt sie CDU. Da machen es sich andere schwerer.

Christine Landt, Verlagsbuchhändlerin, sympathisiert mit ganzem Herzen für das Bündnis 90. Aber sie hat sie nicht gewählt, sondern die FDP. Wochenlang haben sie im Freundeskreis diskutiert, was zu tun ist, und sich dann „staatsmännisch“ entschieden. Sie haben die Wahlstimmen unter sich aufgeteilt, ein Wunschparlament im Kleinen zusammengestellt, wirtschaftliche Notwendigkeiten und Träume versucht miteinander zu verbinden. Das Los, FDP zu wählen, fiel auf sie, Glück nur, daß der Ehemann das Privileg hatte, den Herzenspartner zu ziehen. „Ein merkwürdiger Tag heute“, sagt sie, „ich müßte glücklich sein und bin es nicht. Mir ging alles zu schnell, die Zeit des Dialogs ist zuende, bevor sie begann“.

Von dieser Melancholie ist hundert Meter weiter, in der Dunckerstraße nichts zu spüren. Aus den offenen Fenstern der Altbauhäuser mit dem Charme der Jahrhundertwende, hängen schwarzrotgoldene DDR-Fahnen, so viele sah man dort Monate nicht. Hier wohnen die, die der Protest gegen die „Ausverkaufswahl“ einigt, die, die immer schon in der Opposition waren und es weiter sein werden. Die Musik der Hausbesetzer-Band „Ton, Steine, Scherben“ dringt auf die Straße, „keine Macht für Niemanden“. Auf den Häuserwänden überdimensionale Graffities, „lieber rote Rüben, als Kohl von drüben“. Rund 100 Jungwähler versammeln sich vor dem Wahllokal 310 in der Schliemannstraße, Kaffee wird herumgereicht, hier haben die Wahlhelfer viel zu tun. Rund 1.500 Menschen sind in den Listen notiert und keiner von ihnen will die öffentliche Auszählung um 18 Uhr verpassen. Hier wird keine große Politik gemacht und das lokale Ergebnis wird auch sie nicht überraschen. Die jungen alleinstehenden Mütter werden PDS wählen, die Irokesen und Punks die Splitterparteien. „Eigentlich“, so sagt einer, „gibt es nur die Wahl zwischen Bananen“. Ein Demonstrationszug zieht vorbei, Jugendliche haben sich aneinander gekettet und rufen: „Wir sind die Sklaven des Kapitals.“

Die junge Wahlhelferin stimmt den Befürchtungen zu, aber eine Alternative sieht sie nicht. Die Ökonomiestudentin war wenige Tage zuvor auf die Leipziger Messe gefahren und ist jetzt zutiefst beunruhigt. Sie hat nicht gewußt, daß es um die DDR-Wirtschaft so schlimm bestellt ist, ohne Westkapital geht es nicht. Sie hat sich deshalb in letzter Minute anders entschieden. „Jede Stimme für die PDS bedeutet ein Übersiedler mehr, ich habe eine Westpartei gewählt“. So wirklich demokratisch findet sie ihr Wahlvotum nicht. Sie ist traurig, daß die Zeit der Basisdemokratie jetzt vorbei ist. Eine kleine Kompension ist ihre Mitarbeit im Wahlvorstand.

aku

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