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In Bildern denken

■ „Wie man sieht“ - ein „Essay„-Film von Harun Farocki, WDR 22.30 Uhr

Zahlreiche filmische Einzelheiten, die man sonst nicht zu sehen bekommt, finden sich in Wie man sieht, einem Film, der als einer der wenigen die Bezeichnung „Essay-Film“ tatsächlich rechtfertigt. Harun Farocki, der Autor und Filmemacher, hat graphische Darstellungen, Fotografien und Filmbilder zusammengetragen, die vorwiegend von menschlicher Arbeit handeln, zwischen Kriegstechnik und gegenwärtiger Automation; die Bildmontage entspricht dem Modell eines Werkes, das allein aus Zitaten besteht, und der gesprochene Text bildet einen Kommentar, eine Art Bilderführung. An den Bildern beschreibt der Autor Strukturzusammenhänge, die in vielfältig wiederkehrenden Mustern sichtbar werden und zugleich dokumentieren, wie sich im Zuge der technischen Entwicklung auch das Sehen des Menschen verändert hat.

Harun Farocki hält die Bilder auf Abstand. Aus dem, was er gefunden und gefilmt hat, macht er einen neuen Text, dessen Ideenreichtum aus der Komposition der Bestandteile herrührt, aus der besonderen Spannung von Wechselbeziehungen und Simultanitäten. Im Verlauf dieser Bilderlektüre läßt ein jedes Motiv etwas aus sich in ein folgendes hinübertragen; es stellen sich Beziehungen her zwischen Arbeit und Krieg, zwischen Verkehrswesen und Städtegründungen, Maschinengewehren und Motoren, Straßenbau und Schlachthof, Weberei und Rechenmaschine. Es scheint, als würde jedes Element ein anderes herbeiziehen und damit eine Gedankenperspektive eröffnen, als bildete jedes Bild eine Entgrenzung oder Erweiterung, einen Einspruch oder eine Negation zum Vorangegangenen.

In seinem früheren Film Zwischen zwei Kriegen (1977) hatte Harun Farocki am Beispiel des industriellen Verbundsystems zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg erläutert, wie weit die technische Entwicklung den sie schaffenden und mit ihr lebenden Menschen als etwas Fremdes „widerfährt“, wie sehr geschichtliche Möglichkeiten verspielt werden und Träume ihrer bloßen Verwertung zum Opfer fallen.

Wie man sieht handelt nun von Arbeitstechniken, die die Trennung von Hand- und Kopfarbeit verewigen wollen, und von anderen, sagen wir: alternativen Verfahren, Abzweigungen von der Heerstraße der gegenwärtigen Technologie, die an der Aufhebung dieser Kluft arbeiten. Überdies stellt der Film den seltenen Versuch dar, in Bildern zu denken. Indem er ihre Anordnung trifft, schafft der Film sich in den Bildern eigene Denkwerkzeuge und führt abermals vor Augen, daß es unabhängige Bedeutungen nicht gibt.

Jörg Becker

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