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Litauer trotzen Gorbatschows Ultimatum

■ Unabhängigkeitserklärung bleibt nach Ansicht der litauischen Führung in Kraft / Grenzkontrollen geplant / Sowjetische Truppenbewegungen lösten Beunruhigung bei litauischer Bevölkerung aus / Premierministerin Prunskiene für Wirtschaftsreform / Wahlen in Estland und Lettland

Moskau (dpa/ap/taz) - Trotzig reagierte der litauische Präsident Landsbergis auf ein Telegramm Gorbatschows, in dem der Präsident der Sowjetunion am Freitag die Unabhängigkeitserklärung Litauens für null und nichtig erklärte und ein dreitägiges Ultimatum stellte. Vor 30.000 Menschen, die sich am Samstag in Vilnius versammelt hatten, erklärte der litauische Präsident, an der Unabhängigkeit Litauens sei nicht mehr zu rütteln. Landsbergis zeigte sich optimistisch, daß Moskau trotz des gegenteiligen Votums des Obersten Sowjet vom Donnerstag letztlich den litauischen Beschluß anerkennen werde. Inzwischen lösten sowjetische Truppenbewegungen und die Unterbrechung von Telefonverbindungen Unruhe unter der Bevölkerung Litauens aus. Aus Moskau wurde zwar von Gorbatschow selbst und mehreren offiziellen Stellen jegliches militärisches Eingreifen zur Lösung des Konflikts ausgeschlossen. Landsbergis traf jedoch am Sonntag überraschenderweise mit dem Kommandanten der baltischen Militärregion, General Kusnin, und dem Befehlshaber der dortigen Kommandoeinheiten, General Atschalow, zusammen. Über das Ergebnis des Gespräches wurde nichts bekannt.

Am Samstag hatte Landsbergis das Parlament über die Truppenbewegungen unterrichtet und auf Flugblätter hingewiesen, die von Hubschraubern aus über Vilnius abgeworfen worden waren. Auf diesen Flugblättern sei die Uanbhängigkeitserklärung Litauens als nicht rechtmäßig bezeichnet worden. Nach dieser Erklärung schloß der Präsident die Presse für einige Minuten wegen einer „außerordentlichen Mitteilung“ von der Sitzung aus.

Landsbergis kündigte weiterhin an, er werde Gorbatschow vor Ablauf des Ultimatums am Montag den litauischen Standpunkt noch einmal darlegen. Auch der Parteichef der litauischen KP, Algirdas Brasauskas, bekräftigte am Wochenende vor der Presse, die Entscheidung des litauischen Parlaments dürfe nicht in Frage gestellt werden. Ihm gegenüber habe Gorbatschow erklärt, nicht der Oberste Sowjet einer Republik, sondern nur das Volk könne durch ein Referendum über die staatliche Unabhängigkeit entscheiden. Ministerpräsident Ryschkow und eine Kommission des Obersten Sowjet sollen Gespräche mit den Litauern aufnehmen.

Bereits am Freitag hatte das Präsidium des Obersten Rats, wie jetzt der Oberste Sowjet der Republik heißt, eine Reihe von Maßnahmen eingeleitet, um die Unabhängigkeitserklärung zu unterstützen. Insbesondere wurde die Einrichtung von 37 Grenzposten beschlossen, um „unkontrollierte Exporte“ litauischer Waren einzuschränken. Außerdem wählte der Rat eine neue Regierung und appellierte außerdem an die Völker der Welt, die Unabhängigkeit des Landes anzuerkennen.

An die Spitze der litauischen Regierung wurde eine Frau berufen. Ministerpräsidentin wurde die Wirtschaftswissenschaftlerin Kazimiere-Danaute Prunskiene. In ihrer Antrittsrede erklärte die 47jährige renommierte Vordenkerin der Wirtschaftsreform, die Verwirklichung der Unabhängigkeit und die Wirtschaftsreform seien vorrangiges Ziel ihrer Regierung. In ihr Kabinett wurde auch KP-Chef Brasauskas aufgenommen.

Mit Spannung werden die Ergebnisse der am Sonntag angesetzten Wahlen zu den Obersten Sowjets in den beiden anderen baltischen Republiken, in Estland und in Lettland, erwartet. Auch dort sind bei Siegen der Volksfronten Unabhängigkeitserklärungen vorgesehen. Allerdings stellen in diesen beiden Republiken die ImmigrantInnen einen wesentlich höheren Anteil an der Gesamtbevölkerung als in Litauen.

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