: Aus Nachbarn werden Zaungäste
■ Westeuropa und die Last mit der Vereinigung der Deutschen
Die Perspektive, von einem wieder- oder neuvereinten Deutschland an den Rand gedrängt zu werden, ist für die westeuropäischen Nachbarn keine verlockende. Daß sie kommt, die Deutsche Einheit, daran zweifeln sie nicht. Aber sie wollen nicht nur zuschauen, die Menschen und ihre Volksvertreter in Dänemark, Belgien und den Niederlanden.
Aufgeregter Anruf aus Berlin. Was sie denn nun wirklich davon hielten... Wer? Na, die Franzosen. Wovon? Vom neuen Deutschland und so. Überhaupt wäre da mal ein endgültiger Artikel fällig... Aufgelegt.
Endgültige Ansichten von Auslandskorrespondenten sind bekanntlich an den Auslagen der örtlichen Zeitungskioske wohlfeil zu haben. Erste Beobachtung: Offensichtlich hat Kohls Reden in den französischen Zeitungsredaktionen dazu geführt, Nazi-Wörter in die Schlagzeilen zu nehmen, wenn bundesdeutsche Innenpolitik auf ihren Begriff gebracht werden soll. Nun sind „die Franzosen“, in concreto: der Kioskbesitzer in der Pariser Pyrenäenstraße, sehr höfliche Leute, und so legt besagter Herr zum Trost noch die letzte Nummer des 'L'express‘ auf den Tresen: „Ils s'en foutent. In Wahrheit ist es den Franzosen völlig egal, ob Ihr euch vereinigt oder nicht. Sehen Sie, 62 Prozent macht die Vereinigung keine Angst...“ Bleiben 5 Prozent, die „sehr viel Angst“, und 31 Prozent, die „eher ängstlich“ sind. „Aber fahren Sie doch in die Provinz - und Sie werden schon sehen.“
Nun denn. Sedan in den Ardennen, 25.000 Einwohner, ein Kino, acht Friedhöfe. Ein Mandelhörnchen kostet halb so viel wie in der Hauptstadt, und auf den tabakfarbenen Fassaden der Häuser in der Altstadt halten sich die Graffitis zwei Generationen länger als in Paris: „Pompidou President!“ ist zu lesen. Eine Provinzstadt an der belgischen Grenze, bekannt durch seine Festung (11.Jahrhundert) und seine Karrelagefabrik. „Tor Frankreichs“ steht unter dem Wappen. Ebendiese - wie man zu sagen pflegt: - geopolitische Lage wurde der Stadt zu Verhängnis. 1815, nach Waterloo, belagerten die Preußen das Schloß, und im August 1870 wurde in Sedan die französische Armee endgültig geschlagen wieder von den Preußen. Als die Deutschen 1914 zum dritten Mal an die Pforte Frankreichs klopften, ließen sie auch gleich die heroischen Gebeine der Verteidiger in der „70/71“ -Gedenkstätte Bazeilles zuzementieren. Dafür gibt es heute einen schönen deutschen Soldatenfriedhof in Noyers, auf dem 14.055 Soldaten des Typs „14/18“ und 12.785 des Typs „40/44“ liegen. Die Kriegsgräberfürsorge hat die Stätte des Gedenkens vorbildlich gepflegt, sodaß Herr Kurt S. Aus Essen am 7.Januar in das Friedhofsbuch unter der Rubrik „Gedanken beim Besuch“ schreiben konnte: „Alle Achtung! Sauber, sauber.“
Was also denken die Franzosen in Sedan vom neuen Deutschland, das hierzulande vielleicht schon altbekannt ist? Die Sportartikelverkäuferin vom Place des Armes wird von der deutschen Frage überrascht, als sie eine Jogginghose glattstreicht: „Was soll ich sagen? Das ist unaufhaltsam. Ob es gut ist für Frankreich? Sicher nicht, denn die Deutschen sind dynamischer als wir...“
Die Dame kennt zwar keine Deutschen persönlich - „Wer kommt schon nach Sedan, um Sportartikel zu kaufen?“ -, weiß aber „durch die Medien“, daß Deutsche „streng und zielstrebig“, Franzosen „lebensfreudiger“ seien, weshalb der ökonomische Endsieg der Bundesrepublik unausweichlich sein werde. „Die Arbeitswut und die Kraft der Gedanken sind herausragende Charakterzüge der deutschen Nation. Im allgemeinen findet man bei romanischen Völkern weniger die Neigung zu abstrakten Ideen, wie bei germanischen Nationen; man versteht sich mehr auf Vergnügungen und bodenständige Beschäftigungen“ - das mag die Sportartikelverkäuferin aus Sedan im Sinn haben, obgleich es vor 180 Jahren von Madame de Stael geschrieben wurde, und seitdem in vielerlei Variationen durch französische Ansichten über Deutschland geistert - und nicht nur in Sportartikelgeschäften. Claude Imbert ortete in der Wochenzeitung 'Le point‘ den Grund zur Sorge gegenüber einem neuen Deutschland in „der Ahnung, daß das deutsche Volk seine Macht schlecht meistern könnte und irgendeiner obskuren Schicksalmacht unterworfen ist. Wir fürchten immer noch, daß Deutschland jene Kraft ist, die losgeht, ohne sich vorher zu überlegen, wohin sie geht.“ Deutschland - Kraft ohne Raison, Drang ohne Ziel. Ein energiestrotzendes Riesenbaby, das in seinen Absichten unberechenbar ist und von seinen europäischen Nachbarn daher babygesittet werden muß. Diesen Topos des Deutschen symbolisiert niemand besser als der Bundeskanzler, weswegen seine Äußerungen in Frankreich auch mit größter Aufmerksamkeit registriert werden: „Keine seiner Attitüden ist an sich verwerflich. Aber diese Mischung von vollendeten Tatsachen, einer neuen diplomatischen Dreistigkeit, verbunden mit einer Abschottung seines industriell -finanziellen Systems a la Japan - das alles gibt dem neuen Deutschland einen Geschmack von Unklarheit, Massivität und Unwiderruflichkeit, der überall Argwohn erzeugt“, meint wieder Claude Imbert.
Es ist wie im Dschungelbuch: das von de Gaulle an seine Brust genommene Waisenkind Bundesrepublik entdeckt seine Artgenossin DDR und ist nicht mehr zu halten. „Neutralität“ ist zwar nur für ein Drittel der Franzosen, aber für 90 Prozent der politischen Klasse des Landes (mit Ausnahme der KPF) das Schreckgespenst an sich: „Es ist auch möglich, daß die wahre Mehrheit im Deutschland von morgen die Frucht einer rot-grünen Koalition ist. Sie würde schnell zu einer Neutralisierung des Großen Deutschlands führen, das heißt zu einem nachträglichen Triumph der Strategie von Joseph Stalin“, ist im 'Express‘ zu lesen. Welch noble Überschätzung des SPD-Kanzlerkandidaten.
Doch zurück nach Sedan. Ein pensionierter Lehrer bringt seinen Tennisschläger zum Bespannen. Ihm sei „nicht wohl bei der ganzen Sache“. Nicht etwa, so versichert er, weil seine Großmutter 1940 unter eineR reichsdeutschen Bombe umkam, nachdem sie 70/71 und 14/18 überlebt hatte... Nein, es sei die vereinigte Wirtschaftsmacht, die ihm Sorge bereite. Schon wenige Tag nach dem Mauerdurchbruch waren in französischen Zeitungen Schaubilder zu sehen, in denen Bruttosozialprodukt, Olympiamedaillen und Geburtenentwicklung von BRD und DDR addiert und dem plötzlich unscheinbar gewordenem Häufchen französischer Werte an die Seite gestellt wurden. Der Verweis auf die drohende Wirtschaftsmacht ist ein Argument, das bei den Gesprächen zwischen Franzosen und Deutschen immer dann fällt, wenn die „irgendwie vorhandene Furcht“ genauer beschrieben, also rationalisiert werden soll.
Nächste Station auf der Suche nach Endgültigkeit: das „Cafe de la Poste“, wo neben Schäferhund, Kleinkind und Wirtsleuten nur Monsieur Voiron, Fliesenleger, anwesend ist, seinen „kleinen Calva'“ zu sich nimmt und auch sonst unbesorgt ist: „Gut, daß die Mauer weg ist. Wenn die Leute zusammenwollen, haben wir uns da nicht einzumischen. Und die Gefahr, daß Frankreich auch gleich aufgekauft wird? Wenn wir zu blöd sind, wettbewerbsfähig zu sein, ist das doch unser Problem.“ Eine Feststellung, die auch von der Wirtin geteilt wird. Es sei völlig in Ordnung, daß sich der bessere durchsetze, und überhaupt werde in Frankreich nicht gearbeitet, die Steuern seien zu hoch und die Politiker kümmerten sich nur um die eigene Karriere...
Auch dieses Trauma eigener Unzulänglichkeit hat eine Tradition, die vermutlich hier in Sedan vor 120 Jahren ihren Ursprung nahm und von Zola minutiös beschrieben ist: ein dekadentes, selbstvergessenes Frankreich, das sich an der kalten Asche revolutionärer Ideale zu erwärmen sucht, trifft auf den „unaufhaltsamen Elan“ eines Preußen-Deutschlands, auf dessen Fahnen die technische Rationalität geschrieben steht. Und Frankreich verliert. In Sedan, August 1870.
Siebzig Jahre später, wieder in Sedan, das „Debakel von 1940“: auf der einen Seite eine unmotivierte Armee, geführt von unfähigen Generalen, im Rücken einE seit der Volksfront tief zerrissene Gesellschaft - auf der anderen, so scheint es den Franzosen, wieder jene hochtechnisierte, mit mathematischer Präzision voranschreitende Sozialmaschine „Deutschland“. Mit bekanntem Ausgang.
De Gaulle hatte es geschafft, Sedan- und Vichy-Traumata noch einmal mit nationaler Gloire vergessen zu machen. Nur hat das großmächtige Selbstgefühl seine wesentlichen Stützen inzwischen eingebüßt: der Status als Siegermacht ist dabei, gegenstandslos zu werden; die stille Hoffnung, bis zum Jahr 2000 zum bevölkerungsreichsten EG-Land zu werden, ist unter dem Ansturm von 17 Millionen Neudeutschen zertreten; und die Bombe ist auf bestem Wege, endgültig zum Papiertiger herunterzukommen - durch die Genfer Gespräche vom Aussterben bedroht und ohne rechte Jagdgründe, seit die prästrategischen Zielgebiete DDR, Polen und die CSSR unverhofft Freundesland geworden sind.
Das sind die Sorgen der Strategen. Wichtiger ist, wie sich die zukünftige Existenz als europäischer Juniorpartner bei den Menschen auswirkt, die Tag für Tag aus ihren Neubaublöcken in vollgestopften Metrozügen an unsichere Arbeitsplätze fahren müssen. Wohin wendet sich das Gefühl, in einem Land zu leben, dessen politische Klasse vor der Tristesse der Städte und der Arbeitslosigkeit resigniert hat und in hehrem Selbstbezug das Spiel der Macht betreibt? Ob dann nicht nach unten getreten wird, wenn die deutsche Hegemonie auf allen Gebieten spürbarer wird? Bisher ist es nur die KPF, die mit - man kann es leider nicht anders sagen - chauvinistischem Populismus auf Stimmenfang geht und zur Vaterlandsverteidigung gegen das „Vierte Reich“ aufruft. Die Wähler der Front National sympathisieren, nach einer Umfrage von 'La Croix‘, dagegen mit Großdeutschland. In der Hoffnung auf Kollaboration mit dem starken Nachbarn und gegen die Schwachen im eigenen Land? Das Vichy-Regime feiert im Juli übrigens seinen 50.Geburtstag.
Ist damit alles gesagt? Frankreichs Sorge im Angesicht des neuen Wirtschaftswunders, seine Sorge um sich selbst - und eine im Strudel der Kanzlerreden hochgespülte altdeutsche Begrifflichkeit? Im Grunde ja - gäbe es nicht Leute wie Madame Rossignol. Die Concierge vom „College Turenne“ kennt Deutschland gut, so gut, daß sie beim Erzählen unvermutet in den rauhen Tonfall des deutschen Verwalters fällt: „Schnell, schnell!“ Sie erzählt auch von dem Keller gegenüber vom Doktor Fran?ois, wo „die Leute“ damals malträtiert worden waren. Natürlich sei sie gegen die Mauer, aber es ginge ihr einfach alles zu schnell, und - „Verstehen Sie, wir wurden eben so erzogen“ - die Sache sei ihr schon unheimlich. Irgendwie. Ein gutes Drittel aller Franzosen, so eine Umfrage des 'L'express‘, hält ein Wiederaufkommen des Nazismus für wahrscheinlich, 77 Prozent macht das Angst.
Das Mißtrauen ist nicht nur eines der kleinen Leute. Letzte Woche fand sich in einem honorigen Leitartikel des linksliberalen 'Nouvel Observateur‘ folgendes Szenario: „Stellen wir uns vor: das neue Deutschland hat seine Vereinigung geschafft. Es hat seine Türken verjagt, und die demographische Kurve steigt dank der Kinder aus dem Osten wieder an. (...) Wie mit ihm zusammenleben in diesem Fall dem besten für alle Beteiligten, denn nichts wäre schlimmer für die anderen europäischen Länder als ein festgefahrenes Deutschland.“ Offenbar gilt es als selbstverständlich, daß ein vereinigtes Deutschland seine Türken hinauswirft, um zu sich selbst zu gelangen...
Alexander Smoltczyk, Paris
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