DURCH SCHNITT KUNST

■ Das Zeitgeistmagazin 'Der Querschnitt‘ in der Akademie der Künste

„Der 'Querschnitt‘ hat seine Korrespondenten in sämtlichen großen Zentren Europas, Amerikas, bei Negern und Eskimos. Trotzdem ist es nötig und mindestens ebenso erwünscht, wie ein Abonnement: die Mitarbeit der Leser. Wir fordern hiermit zur Mitarbeit auf! Der 'Querschnitt‘ wird eine Zeitschrift der Ernüchterung und der Ungeniertheit sein. Bevorzugte Querschnittmaterien sind die ganze Skala der unbekannten, verachteten, mißachteten, nicht beachteten Dinge, die infolge ihrer Wesentlichkeit vor allem das Weltbild verändern.“ (Die 'Querschnitt'-Herausgeber)

Der 'Querschnitt - Das Magazin der aktuellen Ewigkeitswerte‘ entstand aus Katalogen, die der Berliner Kunsthändler Alfred Flechtheim den Freunden seiner Galerie zukommen ließ. War es anfangs ein eher zufälliges Sammelsurium mit Abbildungen moderner Malerei und Fotografien, geprägt von langweiligen Mitteilungen und Meinungen über Kunst und Literatur, so ließ Flechtheim das Blättchen ab 1921 zu einer aggressiven Publikation im Zeitschriftencharakter aufblasen, die alles und jeden aufs Korn nahm: Die, die „in“ waren, im Trend lagen, Sport trieben, denen chrompolierte Stoßstangen die Knie zu Charlston-X-Beinen preßten und vor allem die sich unfragwürdig „ewig“ glaubten.

„Die Zeitschrift will nicht neu sein in dem Sinne von mal was anderes. Das Neue ist ihr ebenso gleichgültig wie jegliche andere ausgeprägte Tendenz. Sie macht es sich bequem, indem sie nur anmerkt, registriert - was sie der Mühe überhebt, die alle Tendenz mit sich bringt, konsequent zu sein, Stellung zu nehmen, prinzipiell zu sein, sich zu entrüsten, zu begeistern, Charakter zu haben, alles Dinge, die schnelle Fäulnis der Zeitschriften herbeiführen.“ (Die 'Querschnitt'-Herausgeber)

Erschienen bis 1923 je sechs 'Querschnitt'-Hefte mit einer Auflage von weniger als 1.000 Exemplaren pro Ausgabe, so brauchte Flechtheims Freund und Mitherausgeber Hermann von Wedderkop („Weddo“) 1924 gerade wenig mehr als ein Jahr, um das unverwechselbare Gesicht eines kosmopolitischen Magazins zu entwickeln, das zusammen mit der 'Neuen Rundschau‘ des Verlegers Samuel Fischer und der 'Weltbühne‘ des Publizisten Jacobsohn, den affektierten Zeitgeist der Weimarer Republik verspottete.

Hatte Flechtheim bis 1924 noch im hauseigenen Galerieverlag in Frankfurt nur vierteljährlich veröffentlichen können, so erschien der 'Querschnitt‘ ab 1925 bis 1933 im Propyläen Verlag als Monatsschrift. Die Auflage stieg auf runde 20.000 Exemplare. Wedderkop seilte das Periodikum ab vom alten Stil feierlicher Kulturzeitschriften und ließ eine optische und literarische Unbefangenheit, Differenziertheit, Kleinteiligkeit und das unerwartet Schillernde einziehen. Das begann damals mit so wenig bekannten Autoren wie Ernest Hemingway, Gottfried Benn oder Alfred Döblin und steigerte sich bis zu Selbstenthauptungstexten von General Ludendorff oder Benito Mussolini.

„Personen, die in einem festen Verhältnis zur Literatur stehen, haben keinen Vorzug vor der Telefonistin in der Zentrale eines Luxushotels oder dem Diener großer Herren mit souveränem Geheimleben. (...) Bevorzugtes Mittel lebendiger Wirkung ist die Photographie. Querschnittobjekte sind Straßenszenen, Moden, Herren und Damen mit und ohne Bedeutung. (...) Wir bitten um die Einsendung von Küchenrezepten.“ (Die 'Querschnitt'-Herausgeber)

Durch die Weltwirtschaftskrise Ende der 20er Jahre begann die Weimarer Republik zu bröseln. Hermann von Wedderkop hielt im 'Querschnitt‘ noch bis 1931 durch. 1933 trieben die Nazis Flechtheim ins Exil. Der Propyläen Verlag mußte die Publikation einstellen. Bis 1936 wurde dreimal der Versuch gemacht, die Zeitschrift neu auferstehen zu lassen, quasi als scheinliberales Periodikum. Ottomar Starke gab sie zunächst bei Kurt Wolff heraus. Der Trivialautor Otfried von Hanstein machte daraus ein Blatt für Blut-und-Boden -Fanatiker, indem er Artikel wie „Ostpreußische Menschen, Pferde, Tiere“ (1934) zu Bildern blonder deutscher Jungmädel schmierte, die ihm aber nur wenige abkauften. Schließlich versuchte sich 1936 Edmund von Gordon. Im falschen Glauben, die Olympiade brächte ein „Tauwetter“ in der Kunst mit sich, näherte er sich dem Original wieder an. Als die Turner abgereist waren, wurde der 'Querschnitt‘ verboten.

„Wir sind empfänglich für Humor, doch nur für Querschnitthumor, d.h. wir sperren uns gegen den Witz als luftleeres Gebilde.“ (Die 'Querschnitt'-Herausgeber)

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Im Foyer der Akademie der Künste ist ein Potsdamer-Platz -Panorama mit Bildern großstädtischen Lebens aufgebaut. Für das Bild der Berliner Metropole der 20er Jahre haben die Ausstellungsmacher kein besseres Symbol finden können, als jenen Chronometerständer in seiner Mitte, an dem die erste automatische Signalanlage Europas hing. Um sie wirbelte der Verkehr, wirbelte gleichsam die ganze Stadt. All ihre Erscheinung war Bestandteil dieser unaufhörlichen Rotation, die sekundenlang aufblitzte, um wieder zu verschwinden und erneut aufzutauchen. Die Schwerkraft einer stillgelegten Zeit wurde darin wie im Karussell förmlich weggeschleudert.

Die Fotos und Texte aus den 'Querschnitt'-Heften zwischen 1924 und 1933 sind wie vorbeiflitzende Bilder aus dem großstädtischen Karussell gehängt. Kurz, flirrend und laut tauchen sie auf. Die Abbildungen moderner Künstler: Picasso, Leger, Cocteau, Matisse, Kirchner, Hofer, Renoir, Utrillo oder Zille treten zurück vor dem Marktgeschrei der Texte.

„Der 'Querschnitt‘ besteht aus Kontrasten. Herr von Wedderkop besteht aus Kontrasten. Kontrastwirkung ist die Hauptsache.“

Pling! Das erste Bild hält kurz an. Wie im Kaiserpanorama. „Das feine Milljöh“: Graf und Gräfin Westerhold auf dem Maskenball sind zu sehen und junge Damen, die am englischen Hof debütieren. Die Dolly Sisters auf ihrer Reise nach Paris tauchen auf, und Frau von Oheimb, eine dralle Dicke im Leder -Jäger-Dress, hat sich vor einem erlegten Hirsch ablichten lassen. Die verruchten Typen aus dem Filmmilljöh gucken so modern, daß man ihnen ihre Gemeinheiten förmlich ansieht.“ Dazu Chaplin: „Denk daran, daß dir am Tage des Jüngsten Gerichts alle deine Filme wieder vorgeführt werden.“ (Januar 1931) Das feine Milljöh besteht aus Halbseidenen, Halbweltdamen, Halbwahrheiten und Halbadeligen.

Pling! Das nächste Bild kommt. „Das neue Bein ist da!“ Frauenbeine, Männerbeine, Negerbeine, Griechenbeine sind zu sehen. Dicke Beine, dünne Beine, Gebeine. Aber Beine. Der kurze Rock hat die Frau befreit, lese ich. Jetzt zeigt sie ihr Bein, ist emanzipiert und raucht obendrein. Das ist natürlich totaler Quatsch. „Ick laß‘ mir doch das Fett nicht aus die Beene kratzen wegen dem Emil seine unanständige Lust“, singt die Waldoff.

Närrische Püppchen, die sich nach Schablonen richten: Zum Beispiel die Gräfin Esterhazy, ein junges Ding, das in die feine Gesellschaft eingeheiratet hat, steht da, hat ein Napoleonhütchen auf, kratzt sich, weil das Mieder zwickt, und guckt dumm-doof an der Kamera vorbei. Daneben ist Frau Veronika Goldschmidt-Rothschild zu sehen. Die macht ganz auf mondäne Frau. Sie hat ein langes Ballkleid an, auf dem ein Pfau noch ihre Eitelkeit symbolisiert, und winkelt das Bein ab wie zum Tanz. Klasse.

„Da es eine Menge Männer auf der Welt gibt, so gibt es natürlich auch eine Menge Theorien darüber, wie Frauen sein sollten. Aber Männer inklinieren für einen bestimmten Typ, und der Typ, nicht das Individuum, bildet die Theorie oder das Ideal von der Frau.“ D.H. Lawrence (Mai, 1930) Zweitens: „Wir haben die Schönheitskonkurrenzen in Italien abgeschafft. Der physische Reiz einer Frau ist ein zu heiliges Symbol ihrer weiblichen Tugend und ihrer Gefühlswelt, als daß man ihn öffentlich zur Schau stellen dürfte. „Der übertriebene Drang nach Magerkeit und schlanker Linie ist unbedingt verderblich. Es ist die leidenschaftliche Sucht im Herzen der Frau, den Modeblättern nachzueifern. Es entspricht nicht einmal dem gesunden, normalen männlichen Geschmack, der ganz instinktiv in den weichen Formen des Frauenkörpers die natürliche Ergänzung des eigenen Muskulösen sucht. Ich kenne viele Fälle, in denen die Gesundheit unter dieser Schlankheitssucht gelitten hat.“ Benito Mussolini (August, 1929)) Drittens: „Mit dem Herrn vom Lande ist es etwas anderes als mit denen in der Stadt. (...) Wie sie aussieht, ist mir ganz schnuppe, wenn sie nur Pinke Pinke hat.“ (über die Heiratsvermittlerin Freifrau von Coburg.)

Pling! Das dritte Bild kommt. „Mit Schuß ins Tor. Mit Schuß aufs Ohr.“ Ungarische Sodaten beim Keulenschwingen. Reichswehrübung: Stramm stehen! Max Schmeling schlägt Domörgen k.o.. Sport und Schönheit, aber „wie oft findet man andere Typen an einer Stelle, als man erwartet hätte, kurzbeinige, plattfüßige Hochtouristen, herkulische Schneider, mißgestaltete Günstlinge der Frauen, wo erst ein näherer Hinblick in die psychischen Komplikationen ein Verständnis ermöglicht. Jeder kennt wohl infantile Gestalten von seltener Reife und männliche Typen mit infantilem Gehabe, feige Riesen und mutige Zwerge.“ (Alfred Adler, September 1930)

Pling! Das letzte Foto: „Jodler-Doppelquartett von Luzern mit Ersatz-Jodlern“ gefällt mir mit Abstand am besten. Wie die zur Melodie des Kufsteinliedes aus „Hol‘ Dir ein Rührei, hol‘ Dir ein Radio“ das „Hol-da-rüh-rei-hol-da-rad-iooo“ machten, hörte man wahrscheinlich nicht alle Tage. Der Vierte von links scheint der Allergemeinste; ein Totschlägertyp, der nicht lange fackelt, wenn es darum geht, das „iooo“ am längsten zu halten. Das schiere Vieh. Ein feistes Grinsen ist ihm ins Gesicht gefroren. Die dicken Arme wirken so massig, als wären sie aus dem Stoff geplatzte Schwinger. Das braucht man beim „da-rühr-rei“, denn die Faust hat nach vorne zu schnellen. Den Bauch hält ein Ledergurt gerade noch zusammen, und die leicht gespreizten Beine stehen wie in die Erde gepflockte Kanthölzer. So wie der aussieht, wiegt er gut und gerne drei Zentner und macht die drei Strophen wie nichts. Seine 13 Kumpane sehen nicht weniger stierig aus. Wo sie jodeln, denke ich, sind Saalschlachten an der Tagesordnung. Wenn einer aufgemischt wird, springt der Ersatzmann ein. Das Bild darunter, mit den Mitgliedern des Kegelklubs „Juvenitas“ könnte dagegen als Werbung für eine Schlankheitskur herhalten, so wenig Schmackes hat die dicke Garde.

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„Wir wollen nichts um jeden Preis, weder sensationell noch radikal sein. In diesem Sinne sind wir untendenziös. Wir sehen uns vielmehr Dinge und Menschen auf das Genaueste an. Wir haben nur eine Tendenz, die der Lebendigkeit, indem wir davon ausgehen, das zu betonen, was andere bequem zu unterschlagen geneigt sind, daß diese Zeit ihr eigenes Gesicht hat, ihr Leben hat wie jede andere, so daß sie nur von ihren Historiographen zu entdecken wäre.“ (Die 'Querschnitt'-Herausgeber)

Die Art, mit der sich der 'Querschnitt‘ ums Alltägliche und seine Gemeinheiten kümmerte, gleicht keinem säuerlichen eindimensionalen Intellektualismus, sondern versucht wie in einer Collage die polyperspektivische, kaleidoskopartige Wahrnehmung auf Alltägliches zu schulen. In Bezug zueinander kommen die Gegensätze. Zusammenhänge entstehen im Kopf. Kunst, Zeit, Leben, Wissenschaft und Musik erscheinen scheinbar jenseits festgelegter Wertsysteme.

Erreicht der 'Querschnitt‘ im Arrangement von Bildern und Texten eine Kenntlichkeit, die entkleidet, bloßstellt und verrät, die Schnellebigkeit für Sekunden festhält, um sie ganz anders zu entlassen, so kommt schließlich in den Marginalien der Schutt einer spießigen Gesellschaft zutage, der deshalb interessant ist, weil die Teufel und Bosheiten, Häme und Irrsinn im Detail stecken: „Hierdurch werden Sie ersucht, Ihren Hahn sofort abzuschaffen, der anscheinend von Ihnen gehalten wird, um die Hühner der Reichsbank über die Mauer zu locken, um diese daran zu gewöhnen, die Eier in Ihren Garten zu legen. Sollte der Hahn bis Samstag dieser Woche nicht entfernt sein, so muß dieserhalb gerichtlich gegen Sie vorgegangen werden.“ (1924)

„Kleines U-Boot mit Sehrohr angekommen. Hans Suhl und Frau Thea, geb. Viol. z.Z. Wöchnerinnenheim“ (1924)

„Das leuchtende Damenstrumpfband. Ein sonderbares Patent ist das deutsche Reichspatent 362.864. Sein Gegenstand ist ein Damenstrumpfband, auf dem sich in einer Rosette eine Glühbirne befindet, deren Batterie beim Gehen oder Tanzen so federt, daß dadurch die Lampe zum zeitweisen Aufleuchten gebracht werden kann. Durch die Verschiebung eines Kontaktes läßt sich auch ein dauerndes Leuchten der Glühbirne erreichen. Wie viele Damenstrumpfbandfabrikanten bei dem glücklichen Besitzer des Patents, einem Herrn Victor Schlosser, bereits Lizenzen genommen haben, und wie viele Damen bereits mit derartigen Leuchtstrumpfbändern beglückt worden sind, können wir leider nicht verraten.“ Eingesandt: Louise Krause (Friedenau)

Wer das Karussell verläßt, dem schwindelt.

rola

Die Ausstellung ist noch bis zum 22. April, täglich von 10 bis 19 Uhr, montags ab 13 Uhr im Foyer der Akademie der Künste zu sehen. Eintritt: frei. Katalog: 18 Westmark.