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Polen und seine Grenzen

■ Der Autor ist Leiter des „Observatoire europeen de geopolitique. Wir entnehmen seinen Artikel „Le Monde“ vom 17.3.1990

Michel Foucher

Kriegführen heißt seine Grenzen auf fremdes Territorium verschieben“ schrieb der deutsche Geograph Friedrich Ratzel. Wenn die Polen sich in der Grenzfrage, einem im Europa von 1990 fast anachronistisch anmutenden Problem, so empfindlich zeigen, so liegt das zweifelsohne daran, daß ihr Staat in seiner heutigen Gestalt der jüngste des Kontinents ist, während ihre Nation zu den ältesten gehört.

Wenn die polnische Führung, in all ihren Strömungen, dafür plädiert, bei den zukünftigen Entscheidungen über das neue europäische Staatensystem dabei zu sein, so hat das seinen Grund darin, daß über Polen zulange ohne die Polen entschieden wurde, das führte soweit, daß es zwischen 1792 bis 1919 keinen polnischen Staat gab.

Wenn heute der Akzent vor allem darauf liegt, die immer noch „Oder-Neiße-Linie“ genannte Grenze endgültig anzuerkennen, so schließt das doch nicht aus, daß morgen die Aufmerksamkeit auf die polnische Ostgrenze verschoben werden wird.

Polen ist ein Staat, dem zwischen 1945 und 1947 achtzig Prozent seiner Oberfläche genommen wurden. Nur der polnisch -slowakische Teil sieht heute noch aus wie bei der Wiederherstellung Polens im Jahr 1919. Ansonsten unterscheiden sich die Grenzen von 1945 sehr deutlich von denen, die 25 Jahre zuvor festgelegt worden waren.

Im Osten folgt die sowjetisch-polnische Grenze ungefähr der ersten Curzon-Linie, die der britische Diplomat 1919 vorgeschlagen hatte. Sie folgte etwa dem Bug. Der bildete die Kontaktstelle zwischen der polnischen und der belorussischen und ukrainischen Bevölkerung. Diese Linie wurde damals nicht genommen, weil die westlichen Länder ein Bollwerk gegen den Bolschewismus haben wollten: der 1921 abgeschlossene Vertrag von Riga verschob die Grenze weit nach Osten, fast bis nach Minsk. Das wiederhergestellte Polen wurde ein multinationaler Staat unter polnischer Führung.

Diese der neuen Sowjetführung aufgezwungene Lösung war für diese unakzeptabel und als sie beim Hitler-Stalin-Pakt eine Chance sie zu korrigieren sah, ergriff sie sie: zurück an den Bug, zur alten Verwaltungsgrenze des zaristischen Rußlands also. Das wurde am 8. Februar 1945 in Jalta bestätigt: die Provinzen Belorußland und Ukraine wurden ebenso wie die wolynische Ukraine und die litauische Provinz Wilno der Sowjetunion zugeschlagen. Die Minderheiten wurden im Rahmen der „Operation W“ „ausgetauscht“.

Die zur Staatsgrenze gewordene Curzon-Linie wurde überprüft und korrigiert: im Süden durch die Annexion des Distrikts von Lwow, einer polnischen Staat Galiziens, die Stalin einen Zugang nach Ruthenien, am Südausläufer der Karpaten gestattete: im Norden durch die Aufteilung Ost-Preußens unter den beiden Staaten entlang einer ost-westlichen Linie (Sondervertrag vom 17. August 1949): der Norden um Königsberg/Kaliningrad bildete einen „oblast“ (Verwaltungsdistrikt) von 13 000 Quadratkilometern, der von Litauen getrennt und direkt der russischen Volsrepublik zugeschlagen wurde. Deutsch seit dem 13. Jahrhundert

Was im Osten Polen verlorenging, mußte im Westen kompensiert werden. Churchill hatte auf der Konferenz von Teheran eine Linie vorgeschlagen, die der Oder und ihrem linken Nebenfluß, Glatzer Neiße folgt. So fiel der schlesische Bergbau wieder an Polen, während das agrarische Schlesien bei Deutschland bleiben sollte. Churchill hielt es für besser, wenn Deutschland sich selbst ernähren konnte, statt wenn es mit Getreidelieferungen hätte versorgt werden müssen. Stalin hatte mehr im Sinn und träumte von einer Linie, die der Queis, und der Lausitzer Neiße folgen sollte.

Übersah Churchill, daß es zwei Neißen gab? In Yalta kam es zur Auseinandersetzung und die endgültige Entscheidung - die über einen Raum von 103 000 Quadratkilometern mit fünf Millionen Deutschen befand - wurde auf die Konferenz von Potsdam vertagt. Hier folgte man Stalins Vorschlag und seinem Wunsch nach „Verlagerung“ der deutschsprachigen Bevölkerung.

Churchill hatte in einer Rede vor dem „House of Commons“ diese Vertreibung gerechtfertigt: es sollte verhindert werden, daß aus Schlesien und Pommern ein neues Elsaß -Lothringen würde.

Die Heftigkeit der aktuellen Auseinandersetzung über die Oder-Neiße-Linie zeigt, daß Schlesien sehr wohl wieder Grund eines wirklichen Konflikts sein, wenn diese realpolitische Entscheidung umgestürzt würde. Aber es bleibt dabei, daß dem polnischen Staat Gebiete einverleibt wurden, die seit dem 13. Jahrhundert deutsch und wirklich polnisch nur bis Ende des 10. Jahrhunderts waren. Die Veträge von Moskau und Warschau (1970) „bestätigen“, daß die Oder-Neiße-Linie die „polnische Westgrenze“, nicht aber die „deutsche Ostgrenze“ ist. Eine notwendige Lektion

Die Polen haben, was ihr Territorium angeht, von Jalta profitiert. Sicher, ihre Zugehörigkeit zum Warschauer Pakt definierte ihre Funktion innerhalb des Glacis‘ des großen östlichen Nachbarn. Aber die fiel zusammen mit ihren nationalen Interessen, die durch die Stationierung der Roten Armee in der DDR - der Generalstab des Paktes saß in Legnica, einer Stadt zwischen mittlerer Oder und Neiße garantiert wurde. Der Pakt scheint sich jetzt auf eine sowjetisch-polnische Allianz zu reduzieren.

Der beschleunigte Prozeß der deutschen Einigung, das Verschwinden der DDR, ist ein geopolitischer Faktor von größter Bedeutung. Polen braucht von seinem Nachbarn jetzt größere Sicherheiten. Da die polnisch-deutsche Grenze 1945 von den drei Großmächten festgelegt wurde, ist es nur logisch, daß die Frage, da die Großmächte sich zurückziehen, nach ihrem Status neu gestellt wird.

Der Übergang von einer imperialen Ordnung zu einem demokratischeren Verhältnis zwischen den Nationen impliziert auch eine neue Auffassung von den Grenzen: sie sind nicht mehr die von den Siegern gezogenen Linien, sondern die über die sich die Nachbarstaaten geeinigt haben.

Eine „gute“ Grenze ist die, die beide benachbarten Staaten als legitim anerkennen. Die Prinzipien der Unverletzlichkeit, der Ausschluß von Gewalt, der Unantastbarkeit, der Respektierung der Grenzlinie sind essentiell. Aber wer hat entschieden? Sie müssen durch einen mehr geopolitischen als juristischen Begriff, den der Legitimität, ergänzt werden.

Der Prozeß bedarf auch einer gewissen Pädagogik. Man kann anerkennen, daß die polnisch-deutsche Grenze von den aus Schlesien und Pommern Vertriebenen noch als schmerzhaft und provisorisch wahrgenommen wird. Es ist darum nicht weniger wahr, daß zur Aufrechterhaltung von Stabilität und Frieden Völker und Staaten manchmal auf bestimmte Ansprüche verzichten müssen. Ich meine damit, daß auch auf Erinnerungen und historische Rechte auf Territorien verzichtet werden muß, auf die alle Protagonisten mit einigem Recht Ansprüche anmelden könnten, aber nur um den Preis, einen Konflikt endlos fortzuführen.

Ein paar wenige staatsmännische Worte würden genügen, um klarzumachen, daß diese Verzichtsarbeit geleistet ist. Was aber für die Deutschen, was die polnische Westgrenze angeht, gilt, das muß auch gelten für die Polen, was ihre Ostgrenze angeht, für das Territorium, das Warschau zwischen 1919 und 1939 kontrollierte.

Hier sind die Risiken viel größer als im Westen. Wenn z.B. am Ende die ganz und gar nicht unwahrscheinliche Entwicklung der zentrifugalen Kräfte zur Unabhängigkeit Litauens - eines katholischen Landes, das lange mit Polen liiert war - führt. In diesem Fall würde Kaliningrad, ein russischer Bezirk, zu einer Enklave, die womöglich wieder durch einen „Korridor“ mit Rußland verbunden werden müßte!

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