: Im Garten greiser Kinder
■ Tankred Dorsts „Eiszeit“ in neuer Fassung am Zürcher Schauspielhaus
Als die Deutschen 1940 Norwegen überfielen, erschien in einer norwegischen Zeitung ein Aufruf des Nobelpreisträgers Knut Hamsun: „Norweger! Werft die Gewehre fort und geht wieder nach Hause. Die Deutschen kämpfen für uns alle.“ Nach Hitlers Tod verfaßte Hamsun einen Nachruf, den er als „Geste der Ritterlichkeit“ verstand, einem Manne gegenüber, den er nach einem Besuch recht sympathisch gefunden hatte. Ein Mann, der den großen Dichter gar nicht zu Wort kommen ließ, immer nur selbst redete und den Hamsun später abfällig mit einem „Handwerksburschen“ verglich. Aber der Handwerksbursche war ein Meister seines blutigen Fachs, und die Norweger arretierten nach Kriegsende ihren großen Nationalhelden Knut Hamsun als Kollaborateur, warfen ihm seine Bücher über den Gartenzaun und zogen nach einem zweijährigen Verfahren, das die Weltöffentlichkeit beschäftigt hatte, einen Teil seines Vermögens ein.
Schon den Anmerkungen Tankred Dorsts zur Bochumer Uraufführung durch Peter Zadek 1973 hatte man entnehmen können, daß es dem Autor kaum um eine Auseinandersetzung mit dem politischen Verhalten Hamsuns zu tun war. Die Situation des fast neunzigjährigen Schriftstellers hatte ihn nur angeregt: „Es geht in diesem Stück um Wahrheit und um das Vergehen von Zeit. Der Alte war eine Person, die mich irritierte, und diese Irritation wollte ich an den Zuschauer weitergeben“, schrieb Dorst damals.
Siebzehn Jahre später geht es nur noch um „das Vergehen von Zeit“. Eiszeit ist zu einem Stück über die Zeit des Alters und das Altern schlechthin geworden. Die Irritationen freilich stellen sich nach wie vor ein. Und was Dorst mit „Wahrheit“ gemeint hatte, war schon 1973 nicht ganz klar; um eine historische Wahrheit ging und geht es ihm jedenfalls nicht. Die neue, überarbeitete „Zürcher Fassung“, die Dorst nun am Zürcher Schauspielhaus inszeniert hat, taucht alles in ein mildes, mitunter verklärendes Alterslicht.
„Der Alte“ ist immer noch ein Monument der Starrköpfigkeit. Hundertdreißig will er werden und verkündet doch als einzige Weisheit nur dies: „Es ist eine gottverfluchte Scheiße, wenn man alt ist.“ Wie ein Feldherr sitzt Hans Dieter Zeidler in seinem Stuhl, auf den Stock gestützt, immer ein wenig abseits. Mit den anderen im Altersheim, in dem er interniert ist, will er nichts zu tun haben - sie sind ihm zu alt, und das Alter hat sie kindisch werden lassen. Ein Maskenball wird veranstaltet, Polonaise getanzt und Pudding gegessen Kinderkram.
Wenn die Alten, deren Rollen und Texte Dorst vermehrt hat, zur Akkordeonmusik über Raimund Bauers Bühne tanzen, ist sie innen und außen zugleich: ein steinerner Garten greiser Kinder, ein Zonenrandgebiet des Todes, aber auch die karge Landschaft graugewordener Seelen. Bauer hat den Park des Altersheims als steinübersäte Einöde eingerichtet, die sich zum Bühnenhintergrund nach oben hin aufwölbt, stuhl- und steinbewachsen noch in der Vertikalen.
Der junge Oswald, Reederssohn und ehemaliger Partisan, hatte den Alten früher töten wollen, aus Enttäuschung. Am Ende tötet er sich selbst und wirft damit das einzige weg, was dem Alten noch etwas zu bedeuten scheint: Jugend. „Man muß jung sein“, sagt er einmal, „wenn man jung ist, ist man ein anderer Mensch.“ Oswald ist unter den Anklägern des Alten der einzig interessante. Die drei anderen, ein Pastor, ein Journalist und ein Sparkassendirektor, wollen nicht die Beweggründe des Alten hören, sie warten nur auf ein Eingeständnis der Schuld, auf Reue und Scham. Aber in Zürich bleibt Hanns Jörg Krumpholz als Oswald weit hinter der Dimension seines Textes zurück. Daß er sich umbringt, trifft zwar den Alten, aber wohl kaum das Publikum. Auch den Autor, der hier ja auch Regisseur ist, scheint dies nicht sonderlich zu interessieren. Er ist allzusehr fasziniert von seinem Eisgreis und der Zwischenwelt, in der dieser lebt: fast taub, halb blind, der Gegenwart unzugänglich, von der eigenen früheren Größe immer noch nachhaltig beeindruckt, ein Egomane im finalen Stadium.
Hubert Spiegel
Weitere Aufführungen: 22., 25., 30. März und fast täglich im April
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