Mich interessiert die Wahrheit

■ Ein Interview mit dem japanischen Regisseur Akira Kurosawa, der morgen achtzig Jahre alt wird und einen Oscar für sein Lebenswerk bekommt, unterhielt sich der italienische Journalist Umberto Rondi

Umberto Rondi: Herr Kurosawa, Sie sind jetzt fast achtzig Jahre alt. Der Held in Ihrem vorletzten Film „Ran“ sagt am Anfang: „Ich bin alt, ich muß mein Reich aufteilen.“ Denken Sie daran „abzudanken“, wie es Bergman leider getan hat, und keine Filme mehr zu machen?

Akira Kurosawa: Hideotora, der Held von Ran, ist ein Mann des 16. Jahrhunderts. Damals war das Leben hart, kaum jemand wurde siebzig Jahre alt. Heute ist das anders. Bei Ihnen gibt es Verdi und viele andere, in meiner Heimat denke ich an zwei große Maler wie Tessai und Humehar, die mit fast neunzig Jahren noch wundervolle Werke geschaffen haben. Persönlich fühle ich mich überhaupt nicht alt, ich glaube eher, daß ich erst in zehn Jahren zu dem kommen werde, was man einmal als mein „Meisterwerk“ betrachten wird - wenn ich dann noch lebe. Die Inspiration versiegt nicht so schnell, das Problem ist eher der Körper, die Gesundheit, denn das Kino ist ein sehr anstrengender Beruf.

Für die Bildlichkeit Ihrer Filme wird als Hauptinspirationsquelle oft die flämische Malerei genannt, Breughel, Bosch, Vermeer - aber auch Goya. Stimmt das?

Auch die italienische Malerei wird oft zitiert, Paolo Uccello zum Beispiel - aber nein, ich würde nicht sagen, daß es einen unmittelbaren Einfluß gegeben hat. Wenn ich in mir die Bilder eines Films sehe, den ich machen will und dann beim Drehen bin, lasse ich mich nicht allzu sehr von diesem oder jenem zeitgenössischen oder historischen Maler beeinflussen. Ich denke höchstens an die Epoche, die ich darstellen muß, und diese studiere ich bis auf den Grund, mit aller Kraft. Und es geht mir dabei nicht nur um eine Wahrscheinlichkeit in der Rekonstruktion des historischen Moments, der Milieus, der menschlichen Typologien, der Orte, sondern vor allem auch um die Kostüme - sie sollen immer die richtige Farbe haben. An diesem Punkt gebe ich keine Ruhe. Wenn ein Kostüm des japanischen 16. Jahrhunderts eine bestimmte Farbe hatte und ich diese Farbe in unseren heutigen Stoffen nicht finde, dann lasse ich die Stoffe spinnen, weben und färben, bis der gewünschte Farbton erreicht ist.

Man hat gesagt, ich sei ein Perfektionist, ich betrachte mich eher als einen Filmemacher, der versucht, seine Arbeit so gut wie möglich zu machen. Bitte halten Sie mich jetzt nicht für hochmütig, aber ich glaube, daß ich als Künstler und natürlich nur als Künstler - angesichts der Ewigkeit die Pflicht habe, bei dem, was ich im Sinn habe, Vollkommenheit so weit als möglich anzustreben. Warum sollte ich also nachlässig sein, wenn ich eine Epoche auch durch ihre genauen Farben wiedererstehen lassen kann? Mich interessiert die Wahrheit, nicht ein blasses Abbild davon.

Wie erklären Sie Ihre Vorliebe für das Renaissance -Zeitalter?

Das „Große Jahrhundert“ war ein besonders glücklicher Moment für die Menschheit, in Japan wie im Rest der Welt. Darum ziehe ich es vor. Die Menschen damals waren noch wirklich frei und unbefangen, mehr noch: sie fühlten sich auch so. Wenn sie sich einem Herren verschrieben, dann nur, weil ein gemeinsames Ideal sie verband. Sie kannten die Untreue, aber auch die Unabhängigkeit, und sie betrachteten sich immer als die einzigen Verantwortlichen für ihre Handlungen. Und selbst wenn sie sich wie unsere heutigen Zeitgenossen von einer zügellosen Geldgier hinreißen ließen, so wußten sie dabei immer noch den Ehrenkodex zu respektieren. Sie liebten die Wissenschaft und erwiesen den Künstlern, den Denkern, den Wissenschaftlern und Weisen höchste Achtung. Wie gern hätte ich in diesem Jahrhundert gelebt!

Aber da gab es auch Krieg und Zerstörung, in Ihren Filmen kann man das sehen...

Wer seine Freiheit erhalten will, muß für sie kämpfen und sich ihres Namens würdig zeigen. Verstehen Sie, es gab keine Alternative...

Sie waren immer von der Figur des Samurais fasziniert, der sie einige Filme gewidmet haben.

Die Samurai waren loyale Krieger und wußten ihre Integrität zu wahren. Sie waren bereit zu sterben, wenn es galt, jemanden zu retten... Die Kinder und die Alten zum Beispiel waren heilig. Erste Pflicht der Samurai war es, sie zu verteidigen. Sie waren ganz anders als andere Krieger, sie kämpften nicht für Geld, sondern eher für ein Ideal. Manchmal versuche ich mir vorzustellen, was aus Japan geworden wäre, wenn nicht so herausragende Personen wie die Samurai-Könige Shingen Takeda, Nobunaga Oda, Hideoshi, Motomari Mori und andere so früh von der Bildfläche verschwunden wären und den Tokukawa freie Bahn gelassen hätten, die das Land fast dreihundert Jahre lang erniedrigten und isolierten, um ihre Dynastie zu erhalten.

Ich habe den Eindruck, daß viele Männer des 16. Jahrhunderts, wie die Samurai, wirklich ein anderes Format hatten. Mit unseren heutigen Politikern haben sie nichts gemein, schon körperlich waren sie größer als wir: Es ist bewiesen, daß die Japaner durch die jahrhundertelange Unterdrückung der Tokukawa kleiner geworden sind.

Wie lange brauchen Sie gewöhnlich, um einen Film fertigzustellen?

Wenn man die Jahre nicht zählt, die nötig sind, um die Produzenten zu einer Finanzierung zu bewegen, brauche ich ein Jahr, um das Drehbuch zu schreiben, drei oder vier Monate, um die Schauspieler zu suchen, und dann noch höchstens anderthalb Monate für die Aufnahmen.

Werden Sie auch bei Ihren nächsen Filmen alles selbst machen, vom Drehbuch bis zum Schnitt?

Selbstverständlich. Für mich ist es immer von grundsätzlicher Bedeutung, daß ich bei all den verschiedenen Phasen des Films dabei bin und sie leiten kann. Das Drehbuch zum Beispiel ist das Hauptgeheimnis für den Erfolg eines Films. Es hat keinen Sinn, die Risse eines schlechten Drehbuchs zukleistern zu wollen, indem man schöne Szenen dreht: Das Ganze wird mäßig bleiben. Allerdings sollte man aus dem Drehbuch kein Tabu machen. Wenn einem beim Drehen noch gute neue Ideen einfallen, wäre es ein Irrtum, sie nicht zu verwirklichen. Beim Schnitt hingegen gilt das Gegenteil: Wenn es hier gute Ideen gibt, die aber mit dem Rest nicht gut zusammengehen, muß man den Mut haben, sie beiseite zu schieben. Darum sollte die Verantwortung für den Schnitt immer beim Regisseur liegen. Die Schnittmeister sündigen oft aus übertriebenem Respekt.

Und die Musik?

Sie hat großes Gewicht. Aber nicht die Musik allein, auch die Geräusche. Der Klang kommt immer zuerst. Der Tonteil eines Films ist von allergrößter Wichtigkeit. Man kann beim Traum, beim Alptraum ankommen, aber man muß, glaube ich, bei wirklichen und wiedererkennbaren Geräuschen anfangen.

Bei einigen Sonnenuntergängen in Ihren Filmen fragt man sich, ob es sich nicht um künstliche Effekte oder Nachkolorierungen handelt...

Michelangelo Antonioni hat mir dieselbe Frage gestellt. Sein Besuch hat mir sehr geschmeichelt. Er ist einer der Regisseure, die ich am allermeisten schätze. Nun, es handelt sich um wirkliche Sonnenuntergänge. Bei Sonnenuntergängen muß man warten können, manchmal geschieht dann das Wunder. Es gibt bei Sonnenuntergängen einen höchst delikaten Moment: Wenn die Sonne hinterm Horizont verschwunden ist, hellt sich der Himmel eine kurze Zeit lang auf. Das ist es, worauf ich in Ran gewartet habe, und was ich filmen mußte. Man braucht wirklich eine große Geduld für diesen Beruf!

Kurosawa und das Fernsehen?

Eine sehr schlechte Beziehung. Fernsehen ist nicht Kino und wird niemals Kino sein. In Japan gibt es außerdem, anders als in Italien zum Beispiel, für Filmleute keine Arbeitsmöglichkeiten beim Fernsehen. Es gibt nicht die geringste Zusammenarbeit zwischen den beiden Medien.

Fellini, die Gebrüder Taviani, Pontecorvo, Antonioni, Zeffirelli und andere haben Werbespots gedreht. Was denken Sie darüber?

Mir ist das noch nicht passiert. Ich denke aber, daß die Werbung im Gegenteil das Kino unterstützen könnte. In Japan investieren die Firmen Unsummen in die Werbung. Warum finanzieren sie damit nicht Filme, als Sponsoring? Wenn der Film ein Erfolg wird, wäre der Gewinn, auch vom Image her, beträchtlich.

Was würden Sie jungen Leuten raten, die den Beruf des Filmemachers lernen wollen?

Vor allem würde ich ihnen raten, Papier und einen Stift zu nehmen und zu schreiben. Schreiben, schreiben und nochmals schreiben: Nur auf dem Papier kann man sehen, ob die Ideen und „Visionen“, die man für einen Film hatte, irgendetwas wert sind. Denn es kommt vor, daß man die besten Absichten hat, aber sie nicht ausdrücken kann. Und lesen, viel lesen. Ohne bei der ersten Lektüre aufzuhören. Um mich ganz in den Geist von Krieg und Frieden hineinzufinden, habe ich das Buch zwanzig Mal gelesen, und bei jeder Lektüre habe ich etwas Neues entdeckt. Aber das alles reicht natürlich nicht aus. Man muß auch noch die Leute finden, die das Projekt finanzieren. Und der Weg wird immer bergan führen...

Was liebt Akira Kurosawa am meisten?

Seine Arbeit. Heiße Sommer, eisige Winter und alle Extreme. Wie man in seinen Filmen sieht.

Kann man sagen, in welchem Grad die japanische Kultur Ihr Kino beeinflußt hat?

Sie hat nicht nur mein Kino, sondern mein ganzes Leben beeinflußt. Wie der Einfluß zu beschreiben ist, könnte ich allerdings nicht sagen. Ich habe sie eingeatmet, in mich aufgenommen, sie hat mich genährt, und meine Filme haben dann reflektiert, wie ich sie gelebt habe, spontan, unbewußt, ohne daß ich darüber nachgedacht hätte.

Sprechen wir über „Träume“, Ihren so neugierig erwarteten Film... Worauf beziehen Sie sich darin?

Die Träume gehören zu den geheimnisvollsten und faszinierendsten Abenteuern meines Lebens. In diesem Film habe ich versucht, neun oder vielleicht mehr meiner Träume aus den letzten Jahren nachzuzeichnen und wieder zusammenzusetzen; Silberpulver, Schatten, die Bilder auslöschten, Gespenster, Truggesichte, die sich mir in meiner Fantasie gezeigt haben, um mir irgendetwas zu sagen.

Dieser „Forschungsfilm“ verdankt sich zum Teil auch George Lucas und Steven Spielberg, die Sie angespornt haben, einen Film zu machen und ihn dann auch produziert haben, nicht wahr?

Ja, sie haben mir gleich gesagt, daß es ihnen bei diesem Film auch nichts ausmachen würde, Geld zu verlieren. Sie waren sehr freundlich und haben auch noch gesagt, daß es ihnen schon ausreichen würde, sagen zu können, sie hätten einen Film von Kurosawa finanziert. Aus dem Italienischen

von Thierry Cherve