Der Octopus legt die Kippe weg

■ Lew Jaschin, Held der sozialistischen Arbeit und aller Strafräume, starb im Alter von 60 Jahren

Kürzlich noch war er in Berlin, schaute sich eine Halbzeit der Zehlendorfer gegen den 1. FC Nürnberg an, gab Autogramme während des Pokalspiels, nahm dann seine Krücken und humpelte zum Auto, das direkt neben der Tribüne für ihn geparkt war - und vergaß bei alledem das Rauchen nicht. Keine Sekunde. Ein alter Mann, ausgemergelt, vom Krebs gezeichnet, der ihn schon ein Bein gekostete hatte.

Lew Iwanowitsch Jaschin, Oberst der Sowjetarmee, vor einer Woche noch als bisher erster Sportler zum „Held der sozialistischen Arbeit“ geehrt, Träger der Auszeichnungen: Kreml-Orden, Lenin-Orden, Verdienstorden Roter Stern, vor allem aber „Europas Fußballer des Jahres 1963“. Ganze sechs Tore hatte er in 27 Spielen dieses Meisterschaftsjahres zugelassen. Eine Kultfigur. Kein anderer Torhüter war je mit dieser Wahl geehrt worden, die ansonsten den Regisseuren und Toreproduzenten vorbehalten bleibt.

Max Urbini, Chef von 'France Football‘, hielt die Laudatio: „Ich habe in meinem Leben viele Torhüter gesehen, den Swift und den Ramallets, den Zeman und den Grosics, den Gilmar und den Costa Pereira. Aber man darf nicht denken, daß ich alles verbrenne, was ich einmal verehrt habe, wenn ich nun sage, daß Jaschin sie alle übertraf.“

Zwanzig Jahre lang stand er in der ersten Mannschaft von Dynamo Moskau zwischen den Pfosten, gewann 1956 in Melbourne olympisches Gold, viermal war er bei Weltmeisterschaften dabei, 78mal spielte er für die Sowjetunion, über 150 Elfmeter soll er gehalten haben. Kein Brocken wie die Torleute heutzutage, eher ein schmächtiger Kerl mit dünnen Beinen. Held des Strafraums. „Eigentlich“, sagt Franz Beckenbauer, „war er der Libero seiner Elf.“ Weshalb ihm aufs Alter der Fußball nicht mehr so recht zusagte: „Mit dem modernen Defensivspiel hat sich für uns Torhüter viel verändert. Wir sind an die Torlinie gekettet, und vor uns steht ein Wald von Abwehrspielern und nimmt uns die Sicht. Ist es früher schon einmal passiert, daß ich einen Ball ohne jede Bewegung ins Tor ließ?“

Sicher nicht, weshalb sie ihn „black octopus“ nannten oder auch „schwarze Spinne“. Er war, rühmte 'France Football‘ „ein Stratege der vier Dimensionen“. 41 Jahre alt war er schließlich, als er zu seinem Abschiedsspiel am 27.5.1971 ins Moskauer Leninstadion einlief, und 400.000 Kartenwünsche waren eingegangen. Auch später noch, erinnert sich Beckenbauer, wurde von den Kindern auf den Moskowiter Straßen die Autogrammkarten zum Kurs 10:1 gehandelt, zehn Beckenbauers für einen Jaschin.

Ein paar Jahre danach ging Jaschin am Stock, doch die Zigaretten glimmte wie eh und je, und wer seinen Wodka nicht auf einen Zug leerte, dem schenkte der sonst so freundliche einen finsteren Blick. Sagte er unlängst zum Teamchef: „Ich qualme seit meinem achten Lebensjahr. In jeder Halbzeit habe ich mir auf der Toilette eine angesteckt. Warum soll ich das jetzt nicht tun, wo das Spiel doch schon fast vorbei ist?“

Am Mittwoch hat der Octopus in seiner Wohnung, in der Pistschanaja-Straße, die Kippe weggelegt.

Herr Thömmes