Was kommt nach dem „kalten Krieg“?

■ Ein Gespräch mit dem früheren Mitglied der Nixon-Administration und Herausgeber der „Pentagon-Papiere“, Daniel Ellsberg, über die zukünftige US-amerikanische Außenpolitik

taz: Der kalte Krieg ist vorbei, doch die Vereinigten Staaten erwecken kaum den Eindruck, als seien sie bereit, ihre globalen Machtansprüche aufzugeben. Welche Auswirkungen wird das Ende des kalten Krieges auf die zukünftige US -Politik haben?

Ellsberg: Der globale Konflikt mit der Sowjetunion und dem Kommunismus ist ganz allgemein immer auch ein Vorwand für US -Interventionen in der Dritten Welt gewesen. Ob die USA ihre Politik auch ohne diesen Vorwand so weiterführen können wie bisher, ist derzeit noch offen. Klar ist, daß die amerikanische Bevölkerung bis heute bereit ist, in Mittelamerika eine sehr interventionistische Politik zu unterstützen; wie wir in Panama gesehen haben sogar ohne den Vorwand kommunistischer Umtriebe.

Auch die Hilfe für sogenannte Verbündete, also an Kräfte die den Interessen des US-Busineß ergeben sind, zur Unterdrückung kommunistischer Aufstände, findet weiterhin allgemeine Billigung. Ich sehe zum Beispiel durchaus die Möglichkeit eines amerikanischen Eingreifens auf den Philippinen, auch nach dem Ende des kalten Krieges.

Das Recht auf Intervention scheint ein völlig integrierter Teil der US-Außenpolitik und des amerikanischen Hegemonieverständnisses darzustellen. Wie ließe sich denn die amerikanische Öffentlichkeit von der Notwendigkeit einer Aufgabe dieses als so selbstverständlich erachteten Rechts überzeugen?

Eine Lehre aus Vietnam war die anhaltende Abneigung Amerikas gegen den Einsatz von Streitkräften, insbesondere von Bodentruppen im Ausland. Selbst Reagan hat dieses sogenannte „Vietnam-Syndrom“ nicht verdrängen können. Ohne die Vietnamerfahrung hätten wir sicher auch Truppen nach Nicaragua und El Salvador entsandt, vielleicht auch auf die Philippinen.

Die Invasion in Panama war nur so populär, weil sie so schnell vorüber war. Hier gibt es also eine Beschränkung für ein militärisches Engagement der USA. Doch das Sendungsbewußtsein, im Interesse Amerikas - oder wie unsere Führer sagen, im Interesse der Demokratie - zu intervenieren, ist in der Tat unverändert. Ich hoffe einfach, daß das gute Beispiel der anderen Supermacht, die einen neuen weltpolitischen Ansatz - ohne Interventionen verfolgt, einen positiven Effekt auf die US-Politik haben wird.

Unsere Öffentlichkeit hat den neuen Ansatz der Sowjetunion noch nicht wirklich verstanden und aufgegriffen. Ja, einige interpretieren das außenpolitische Verhalten der Sowjetunion lediglich als Zeichen der Schwäche und lehnen es deswegen als Modell für uns ab.

Werden auch die Geheimdienstoperationen und die „Secret Wars“ der CIA so weitergeführt wie bisher?

Die Bush-Administration sträubt sich gegen jede Form eines operationellen oder ideologischen Wandels, hält in bezug auf die Geheimdienstpolitik in Theorie und Praxis am Status quo fest. Und die Öffentlichkeit, die eigentlich mehr Entspannung und Abrüstung durchaus aufgeschlossen gegenüber steht, übt in dieser Frage keinerlei Druck auf die Administration aus. Im Gegenteil, die erwähnte Abneigung der amerikanischen Öffentlichkeit gegenüber militärischen Verwicklungen im größeren Stil, wird Geheimdienstoperationen auch in Zukunft einen großen Spielraum zukommen lassen, solange die imperialen Ambitionen nicht aufgegeben werden.

Es gibt im US-Establishment mit Sicherheit solche, die die gegenwärtige Situation als große Chance begreifen und den Rückzug der Sowjetunion militärisch und operationell ausnutzen wollen.

Wie erklären Sie die allgemeine Gleichgültigkeit der US -Öffentlichkeit gegenüber den anhaltenden Geheimdienstoperationen der CIA?

Solange aus den Ländern keine Leichen nach Amerika zurückkehren, solange keine Szenen des Blutvergießens in den Abendnachrichten auftauchen, ist sich kaum ein US-Bürger der Existenz und Kosten dieser Aktivitäten bewußt.

Bleiben wir bei Geheimdienstoperationen. In der Iran-Contra -Affäre steht als letzter Reagans Sicherheitsberater General Pointdexter vor Gericht. Sie haben in der Vergangenheit Irangate mit Watergate verglichen. Mit dem Unterschied, daß niemand mehr an der Aufdeckung des Iran-Contra-Skandals interessiert zu sein scheint. Wie erklären Sie dieses Desinteresse?

Die oppositionellen Demokraten verhielten sich zum Watergate-Skandal ganz anders als zur Irangate-Affäre. Kurz nach Beginn der Iran-Contra-Kontroverse bildeten Demokraten und Republikaner eine Art Koalition. Der Kongreß legte ein seltsames Desinteresse an den Tag, besonders an den politisch delikaten Aspekten, wie den Verbindungen der Contras zum Drogenhandel. Diese Verwicklung der Contras und damit der Administration - in den internationalen Drogenhandel besaß ein größeres Potential für ein Impeachment (eine Anklage des Präsidenten durch den Kongreß) als Watergate. Doch die Demokraten folgten den Republikanern in der Vermeidung der Thematik.

Warum?

Ich weiß es nicht, die Sache ist einfach mysteriös.Ich habe viele Leute danach gefragt, aber noch keine wirklich zufriedenstellende Antwort bekommen. Einige, wie mein Kollege an der Universität von Berkeley, Peter Dale Scott, haben die These aufgestellt , das unser politisches System mit seinem ungeheuren Bedarf an Parteienspenden zur Wahlkampffinanzierung bereits von solchen Quellen abhängig ist, die in das Drogengeschäft verwickelt sind. Hier mag die nicht nur in Panama, sondern auch in den USA praktizierte Geldwäsche von Narcodollars eine Rolle spielen.

Scott vermutet überdies, daß eine Reihe amerikanischer Banken aufgrund ihrer Schuldenpolitik vom finanziellen Überleben bestimmter lateinamerikanischer Länder abhängig sind und sich deswegen nicht leisten können, wenn eine der Haupteinnahmequellen dieser Länder, nämlich in den USA gewaschene Drogendollars, versiegt. Nach dieser Theorie würde eine Unterbrechung des Drogenhandels erst zur Zahlungsfähigkeit der Schuldnerländer und dann zum Zusammenbruch der US-Banken führen. Ich glaube dieser Erklärungsversuch verdient allein deswegen Beachtung, weil sich die Nichtaufdeckung dieser Verbindungen zwischen den Geheimdienstoperationen der Reagan-Administration und dem Drogenfluß in die USA nicht anders erklären läßt.

Wie kam es denn überhaupt zu dieser Drogen-Connection?

Nach dem vom Kongreß ausgesprochenen Verbot von Geheimdienstoperationen zur Unterstützung der Contras gingen CIA und Administration dazu über, die Hilfe für die Contras über Drogenhändler abzuwickeln. Die Contras bezogen also Gelder von Drogendealern und handelten zur Geldbeschaffung für ihre Unternehmungen und sogar auf eigene Rechnung mit Drogen, alles mit Wissen der USA. Die Reagan- und später die Bush-Administration haben die Drogenbekämpfung daheim so völlig dem Interesse der Aufstandsbekämpfung im Ausland untergeordnet. Der Drogenkonsum in unseren Städten ist der bewußt in Kauf genommene Preis für die Verfolgung illegaler und unpopulärer Kriege im Ausland.

Würde der jetzt von den USA vorbereitete Einsatz von Militärs im Drogenkrieg diese Verbindungen zwischen US -Sicherheitsorganen und Drogenhändlern nicht noch fördern?

Es ist gewiß kein Zufall, daß unsere Geheimdienstoperationen in Südostasien von einer Heroin -Epidemie begleitet wurden und daß unsere Geheimdienstaktivitäten in Mittelamerika mit einer Kokain -Epidemie einhergegangen sind. Jetzt auch noch dem Militär eine Rolle im Drogenkrieg zuzuweisen, ist das Schlimmste, was die Bush-Administration in der Drogenbekämpfung tun kann. Ein verstärkter militärischer Luftverkehr zwischen Kolumbien und den USA, für den keinerlei Zollkontrollen gelten, wird den Drogentransport fördern, statt ihn zu unterbinden.

Das Verhalten der Demokraten im Skandal scheint die These von Gore Vidal zu unterstützen, die USA entwickelten sich zum Einparteienstaat, in dem die beiden Parteien lediglich als verschiedene Flügel einer Partei des Geldes anzusehen sind.

Dies gilt heute mit Sicherheit mehr als vor zehn Jahren. Nur daß uns heute die Veränderungen in der Sowjetunion hoffen lassen, daß auch wir eines Tages ein Mehrparteiensystem haben werden.

Wie ist es denn dazu gekommen?

Die Autoren Ferguson und Rogers zeigen in ihrem Buch Right Turn auf, wie die Demokraten die institutionelle Unterstützung für eine liberale Politik, für ein Verhältnis mit den Gewerkschaften, also die Grundlage des „New Deal“, verloren haben. Die Großunternehmen sind an einer Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften nicht mehr interessiert und haben deswegen aufgehört, die Demokraten zu unterstützen.Um diese Basis zurückzugewinnen, haben sich die Demokraten inzwischen in eine zweite Republikanische Partei verwandelt. Deswegen gibt es heute kaum noch ein Eintreten der Parteien für eine verbesserte Sozialpolitik oder eine nennenswerte Opposition gegen die imperialistische Außenpolitik.

Seit Monaten werden in den USA verschiedene Abrüstungsszenarien diskutiert. Verteidigungsminister Cheney schlägt bisher lediglich eine Kürzung der Ausgabensteigerung vor. Der ehemalige Verteidigungsminister Robert McNamara will die Rüstungsausgaben dagegen jährlich um fünf Prozent kürzen, was in einer Dekade zur Halbierung des gegenwärtig 300 Milliarden Dollar schweren Rüstungsbudget führen würde.

Den letztgenannten Kürzungsplan als den „radikalsten“ Abrüstungvorschlag zu diskutieren, ist angesichts der Veränderungen in den internationalen Beziehungen einfach lächerlich. Ein Szenario, das sich von solchen Projektionen unterscheidet und mir dennoch als völlig vernünftig erscheint, wäre die Halbierung des Verteidigungsbudgets um 50 Prozent im nächsten Jahr! Und wenn dies aufgrund politischer Widerstände und praktischer Probleme nicht möglich sein sollte, dann in höchstens zwei bis drei Jahren. Die Legitimation für 50 bis 60 Prozent unseres Verteidigungshaushalts ist einfach verschwunden.

Welche 50 Prozent müssen denn Ihrer Meinung nach zuerst abgerüstet werden?

Primär die konventionellen Streitkräfte und Waffensysteme, deren Aufgabe die Verteidigung Europas im Rahmen der Nato ist. Dies schließt die in Europa stationierten Seestreitkräfte und die in den USA für einen Einsatz in Europa bereitstehenden acht Divisionen mit ein. Dazu müßte auch - was in der Debatte nie geschieht - der Großteil unserer strategischen Atomwaffen gerechnet werden.

Noch heftiger als der Streit um die Abschaffung der verschiedenen Waffensysteme toben derzeit die Auseinandersetzungen über die sogenannte „Friedensdividende“. Die Demokraten wollen die freiwerdenden Rüstungsgelder in Sozialprogramme investiert sehen, die Bush -Administration will damit das enorme Haushaltsloch stopfen.

Die Bush-Administration hat es verstanden, die Debatte mit großartig klingenden Zahlen über die Rüstungskürzungen vorwegzunehmen. Der Streit um die Verwendung der Friedensdividende kommt nur deswegen auf, weil die vorgegebenen und diskutierten Summen so gering sind, daß die Verwendung der Gelder alternativ diskutiert werden muß. Würde man dagegen, wie von mir vorgeschlagen, über eine Dekade hinweg mehrere hundert Milliarden Dollar einsparen, ließen sich damit wohl sämtliche haushaltspolitischen und sozialen Probleme der USA lösen.

Bevor es dazu kommt, muß erst noch der beträchtliche Widerstand des militärisch-industriellen Komplexes überwunden werden. Wie soll das gehen?

In den letzten fünf Jahren ist in den USA die Einsicht gewachsen, daß wir die Rüstungsdollars dringend zur Lösung wirtschaftlicher und ökologischer Probleme brauchen. Ich denke, daß dieses wachsende Bewußtsein über die Kosten umweltpolitischer Maßnahmen zur Entseuchung unserer Atomfabriken und der Bekämpfung des Treibhauseffektes zu einer Reduzierung des Rüstungsbudgets führen wird.

Wie erklären Sie denn den Widerspruch zwischen diesem Bewußtsein und der Politik der Bush-Administration, sich auch im nächsten Jahre noch einen unverändert hohen Rüstungshaushalt zu leisten?

Neben der Nichtaufklärung von Irangate ist die extreme Ergebenheit der Bush-Administration dem militärisch -industriellen Komplex gegenüber ein weiteres Rätsel gegenwärtiger US-Politik. Auch hier habe ich nur die Erklärung, daß die Parteien - nicht nur die Bush -Administration - in ihrer Finanzierung vom High-Tech-Sektor der amerikanischen Rüstungsindustrie abhängig sind und diese Rüstungskonzerne so einen überproportionalen Einfluß auf die US-Politik ausüben. Selbst Reagan wäre in diesen Abrüstungsfragen vermutlich flexibler gewesen. Doch Bush hat sich, um nominiert zu werden, mit einem äußerst konservativen Stab umgeben, der ihm als eher passivem Präsidenten nun die Politik diktiert.

Wäre die US-Volkswirtschaft als „Nicht-Planwirtschaft“ denn überhaupt in der Lage, eine rasche Konversion der Rüstungsindustrie durchzuführen?

Durchaus. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir den Anteil der Rüstungsausgaben am Bruttosozialprodukt von 30 Prozent binnen eineinhalb Jahren auf wenige Prozentpunkte reduziert. Dies ist alles eine Frage des politischen Willens der Bush -Administration.

Wie sollte Ihrer Meinung nach der Prozeß der De -Nuklearisierung Europas verlaufen?

Die Idee des Einsatzes von Atomwaffen aus verschiedenen Gründen, einschließlich der Schadensbegrenzung im Falle eines Atomkrieges durch die Zerstörung der Offensivkräfte des Gegners, diese Idee ist seit über 20 Jahren anachronistisch. Es mag für eine solche Politik in den 40er und 50er Jahren aus der Sicht des Pentagons einmal eine Berechtigung gegeben haben. Doch die These, daß das Ergebnis eines Atomkrieges von der jeweils neuesten Waffengeneration abhängt, war schon immer fern jeder Realität. Dennoch hat diese Theorie das Wettrüsten in Ost und West bis vor kurzem bestimmt. Dies ist der Zeitpunkt, den historischen Irrtum, Europa als nukleares Schlachtfeld zu bestellen, für immer zu korrigieren. Wenn wir uns heute allein auf die Funktion direkter Abschreckung beschränken, könnten beide Seiten ihre Arsenale auf ein paar hundert mobiler Atomraketen auf Schiffen oder auf Landfahrzeugen beschränken. Das Ziel wäre die Beinahe-Abschaffung von Atomwaffen, die sich ohne weiteres bis zum Ende des Jahrzehnts realisieren ließe. Ich persönlich bin für die De-Nuklearisierung Europas innerhalb eines Jahres. Wir brauchen mehr als die Verhinderung der Modernisierung von Atomwaffen: Wir müssen öffentlichen Druck für den sofortigen und permanenten Abtransport aller Nuklearwaffen aus Europa ausüben. Nachdem sie sich bereits vor acht Jahren von einer Erstschlagpolitik distanziert hat, gibt es für die Sowjetunion schon heute keinen Grund mehr, auch nur eine Atomrakete in Europa stationiert zu haben.

Warum ein paar hundert Atomwaffen behalten und nicht die totale Abschaffung?

Solange wir in einem System leben, das souveräne Staaten mit einer unabhängigen Militär- und Bedrohungspolitik sowie Kriege toleriert, wird niemand Atomwaffen völlig aufgeben. Ohne die Abschaffung der Institution Krieg wird es keine dauerhafte Verbannung von Atomwaffen geben.

Wie geht es auf dem Weg zu einem Europäischen Sicherheitssystem weiter?

Entfernung aller taktischen Atomwaffen aus Europa so schnell wie möglich. Rückzug aller sowjetischen und amerikanischen Truppen. Es gibt keinen militärischen Grund mehr für die USA, auch nur einen Dollar für die Verteidigung Europas auszugeben, höchstens noch wirtschaftliche Gründe dafür, einen Fuß in Europa zu halten.

Wie können denn in diesem Zusammenhang neue Sicherheitsgarantien gegenüber einem wiedervereinigten und wiedererstarkten Deutschland verankert werden?

Die Wiedervereinigung hat ja ein großes Interesse an der deutschen Bündnispartnerschaft erweckt, aber kaum zu einer Diskussion über die angemessene militärische Stärke dieses Deutschlands geführt. Mit dem Rückzug und der Demobilisierung der sowjetischen Streitkräfte auf der einen und dem damit wachsenden Sicherheitsbedürfnis der Nachbarn Deutschlands auf der anderen Seite kann eine Lösung nur in einer parallellen Abrüstung der deutschen Streitkräfte und ihr Umbau in eine reine Defensivstreitmacht liegen. Wenn jetzt sowjetische Panzerabgezogen und demnächst ostdeutsche Panzer verschrottet werden, sind auch die westdeutschen Panzer dran.