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Gallischer Hahn, deutscher Adler und der Vogel Strauß

Serge July, Chef von 'Liberation‘, und Michel Debre, ehemaliger Premierminister, über europäische Perspektiven nach der Wahl in der DDR aus französischer Sicht  ■ D O K U M E N T A T I O N

Michel Debre, ehemaliger Premier-, Wirtschafts-, Verteidigungs- und Außenminister, ist der Wortführer von Frankreichs Altgaullisten und überzeugter Antieuropäer. Seine Position wird in Frankreichs politischer Klasse nur noch von wenigen - darunter den Kommunisten - geteilt.

Vorsicht! Sind wir nicht dabei, die letzten Jahre der III. Republik nachzuspielen? (Die III. Republik endete 1940 mit der Machtübernahme Petains nach der Kapitulation vor der Deutschen; d. Red.) Hinter der Fassade innenpolitischer Streiterei zeichneten sich damals zwei Lager ab. Die einen akzeptieren eine Entwicklung, die den größeren Teil Europas (und wenig später uns selbst) unter die militärische Herrschaft der Germanen brachte, die anderen stellten sich ihr entgegen. Ist nicht eine analoge Lagerbildung in der französischen Politik zu spüren, diesmal gegenüber der wachsenden deutschen Hegemonie auf wirtschaftlichem Gebiet? Wir wohnen einer Offensive derer bei, die auf unsere Kosten zulassen, daß der Pangermanismus das Europa von morgen dominiert. (...)

Frankreich will ein demokratisches Europa, das dem neuen Deutschland verständnisvoller gegenübersteht, als das monarchistische Europa uns nach den napoleonischen Kriegen gegenübertrat. Wir halten die Vereinigung Deutschlands für eine naturgemäße Sache. Es muß ein offizielles Einverständnis von allen Nachbarn - ohne Ausnahme - darüber geben, daß die Nachkriegsgrenzen unberührbar sind und daß das Nuklearverbot aufrechterhalten bleibt. (...)

Allerdings muß sich die EG-Kommission Fragen gefallen lassen, wenn sie

-eine Finanzhilfe Frankreichs an Deutschland vorschlägt. Ohne sich um unsere Belastungen zu kümmern und ohne daß es für uns von Vorteil wäre, möchte Brüssel uns mehrere Milliarden Steuern auferlegen, um Westdeutschland die Last zu erleichtern, die die Absorption Ostdeutschlands mit sich bringen wird. Und das in einem Moment, wo die Bundespolitiker sich - auf unsere Kosten - nicht nur für ein germanisches „Mitteleuropa“ engagieren, sondern auch für einen Wirtschafts- und Finanzabkommen mit Rußland!

-den Verzicht auf das große Europa vorschlägt. Die europäische Organisation ist den Franzosen stets als Garantie gegen die germanische Vorherrschaft verkauft worden. Erinnern wir uns nur der feierlichen Versprechungen der Väter der ersten Gemeinschaft! Es ging darum, den Westdeutschen eine Zukunft unabhängig von jeder Vereinigung zu verschaffen. Mit der Vereinigung ist die Gemeinschaft von nun an der germanischen Dominanz ausgeliefert. Und Brüssel stellt sich jeder Erweiterung Europas entgegen, durch die ein Gegengewicht zu Deutschland geschaffen werden könnte!

-eine einheitliche Währung vorschlägt. Angelehnt an die D -Mark und verwaltet von einer mehrheitlich deutschen Institution, würde sie vor allem dazu dienen, jene Ambitionen deutscher Politiker zu stützen, die hinter wirtschaftlichen Zielen immer nur kulturelle und politische Ziele verfolgt haben. So bringt man den Franzosen und Europäern keinen Frieden.

Suchen wir keine Streitereien mit den Deutschen, die ihnen nur nützen würden! Wieder einmal müssen wir uns klarmachen, daß das deutsche Problem im Grunde ein französisches ist. An uns ist es, damit fertigzuwerden. Es war schon unverzeihlich zuzulassen, daß Frankreich seit 15 Jahren immer älter wird, weil sich die Generationen nicht erneuern. (...) Daneben darf es keine Änderung - weder direkt noch indirekt unserer Sicherheitslage geben. Wir müssen unsere nationale Abschreckungskraft nicht nur gegen den Osten, sondern auch gegen den Süden behalten. Wenn wir eine stimmige Politik im Mittelmeerraum und in Afrika weiterhin an die oberste Stelle unseres Augenmerks und unserer Pflichten stellen, müssen unsere - modernisierten, einsatzfähigen - Streitkräfte unter französischem Kommando verbleiben. Im europäischen Interesse müssen wir Afrika genausoviel Aufmerksamkeit zuwenden wie Mitteleuropa. Voila - das ist unsere Aufgabe.

Den aufgeklärten Konsens („if you can't beat them - join them!“) unter Frankreichs Politikern formuliert Serge July, Herausgeber von 'Liberation‘:

Es gibt zwei Möglichkeiten, die Übergangsperiode (zur deutschen Einheit; d. Red.) anzugehen: Entweder bleibt die Einigung eine deutsch-deutsche Angelegenheit, oder die Gemeinschaft nimmt sich ihrer an - auf wirtschaftlichem ebenso wie auf verteidigungspolitischem Gebiet. Selbst für das mächtige Deutschland wird die Vereinigung entsetzlich kostspielig und kompliziert. Wenn sie schlecht durchgeführt wird, kann die Gemeinschaft destabilisiert werden und in Europa ein Tohuwabohu ausbrechen.

Es wäre eine Vogel-Strauß-Politik, wenn wir die BRD mit der DDR alleinließen mit all den Nebeneffekten der Vereinigung, einschließlich der nationalistischen Irrläufer. Einmal deswegen, weil die BRD mit ihren europäischen Partnern enge und voneinander abhängige Beziehungen unterhält. Aber vor allem, weil der strategische Rahmen, der Europa auferlegt worden ist, mit der Realität nicht mehr übereinstimmt und bald eine Menge Probleme für die europäischen Nato -Mitglieder aufwerfen wird. Mit der Integration der fünf (DDR-)Länder in die EG stellen sich nicht nur wirtschaftliche Probleme, sondern auch die Fragen nach einem europäischen Verteidigungssystem. Vor allem aber: Die nationalistische Gefahr, auf die Frankreich oft reflexmäßig reagiert, könnte Gestalt annehmen und Deutschland in einer narzistischen Selbstbezogenheit belassen. Solange diese Gefahr besteht, ist der europäische Rahmen das beste Gegengift. Die EG muß sich der deutschen Vereinigung annehmen.

Das ist banal. Aber dennoch scheint niemand bereit, alle Konsequenzen zu ziehen: Europa hat ein friedliches und demokratisches Stelldichein mit Deutschland. Die Frage der Einheit steht von jetzt an im Herzen des europäischen Aufbaus. Den guten Maurer erkennt man an seiner Mauer: Leider erkennt man bei uns bislang überhaupt nichts, bis auf die ewige Litanei, die die Ostdeutschen an die Westdeutschen verweist, solange nur die Oder-Neiße-Grenze respektiert wird. So wie die EG-Außenminister ihr ganzes Gewicht dafür eingesetzt haben, daß der Kanzler jede Doppeldeutigkeit bezüglich der deutsch-polnischen Grenzen aufgibt, so könnten sie ihre jeweiligen Regierungen jetzt davon überzeugen, sich für die deutsche Vereinigung einzusetzen. Gewiß sind die Widerstände gegen eine europäische Einmischung in der BRD zahlreich. Aber sie sind noch zahlreicher auf dieser Seite des Rheins, wo in der Frage ein beharrliches Schweigen herrscht. Man könnte glauben, Europa interessiert die Franzosen nur, wenn sie die erste Geige spielen können, aber Europa verliert für sie jede Attraktivität, wenn sie sich den Pilotensitz teilen müssen. Diese französische Verkrampftheit gegenüber Deutschland ist ein schlechtes Zeichen, weil sie immer ein Alibi ist für einen Nationalismus, der sich nicht beim Namen nennen lassen möchte.

Debre aus 'Le Figaro‘, 19.3.1990; July aus 'Liberation‘, 19.3.1990 / Übersetzung: smo

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