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Ideologie ist bei DDR-Studenten out

■ Mit Politik wollen die Studies „nichts zu tun haben“ / Das trifft auch Unterstützergruppen aus dem Westen

Berlin (dpa) - Eigentlich sollte das Mitgliedsbuch der Freien Deutschen Jugend (FDJ) „sorgsam behandelt“ und „vor Verlust und Mißbrauch beschützt“ werden. Jetzt füllen Hunderte dieser blau kartonierten Ausweise mehrere Papiertüten und warten in den Räumen des neugegründeten „Sozialistischen Studentenbundes“ (SSB) in der Ostberliner Humboldt-Universität darauf, abgeholt zu werden.

Neben den zurückgegebenen Ausweisen stapeln sich in der Ecke Kästchen mit golden glitzernden FDJ-Ehrenorden, gebündelte Flugblätter und Redemanuskripte. Niemand weiß, wohin damit. Dem vor einigen Wochen in die ehemaligen Räume der FDJ-Kreisleitung eingezogenen SSB werden die FDJ -Überbleibsel zur Altlast. „Wir haben nur einen Reißwolf an der ganzen Universität“, stöhnt die 18jährige Christine Hulcher, die seit einem Jahr an der Ostberliner Humboldt -Universität Englisch und Russisch studiert.

Als offizieller Rechtsnachfolger der FDJ hat der Sozialistische Studentenbund einen schweren Stand. Er steht im Ruf, daß sein Name der einzige Unterschied zur FDJ sei.

Seit vergangenem November ist der Studentenrat die offizielle Vertretung der Studenten, vorher gab es gar keine. Jeder Fachbereich - in der DDR „Sektion“ genannt entsandte hierzu zwei Vertreter. In diesem „basisdemokratischen Modell“, so Tuschke, werde gewählt, „wer sich überzeugend für die Interessen seiner Sektion einsetzt“. Noch spielten parteipolitische Orientierungen keine Rolle.

Studentische Interessen zu vertreten heißt im Studentenrat bislang noch, sich auf universitäre Fragen zu beschränken. In den ersten Monaten sei es dem Rat gelungen, die Zensur der Wandzeitung abzuschaffen, den beschränkten Zugang zu den Bibliotheken aufzuheben und erste Erfolge bei der Suche nach Wohnungen für Studenten zu verbuchen. Langfristig sind ständige Referate für soziale Fragen, Jobs und Wohnungen geplant.

„Mit Politik wollen die meisten im Moment nichts mehr zu tun haben“, erklärt Mathematik-Student Olaf Burdack die Schwierigkeiten politischer Gruppen bei der Suche nach neuen Mitstreitern. „Dafür waren die bisherigen Erfahrungen zu schlecht.“

Zu spüren bekam das zum Beispiel der Ring Christlich -Demokratischer Studenten (RCDS), der von der gleichnamigen CDU-nahen Organisation bundesdeutscher Universitäten auch materiell unterstützt wird. Daß der bisherige Ostberliner RCDS-Vorsitzende vor einiger Zeit noch für die SED in Berlin -Lichtenberg kandidiert hatte, wurde schon mehrmals auf Plakate des RCDS gekritzelt. Der neue Vorsitzende Thomas Haupt: „Die Leute haben eben nicht gelernt, mit Meinungsvielfalt zu leben.“

Das Dilemma, das er beschreibt, betrifft im Grunde alle Hochschulgruppen: „Wer heute jemanden als 'Wendehals‘ beschimpft, vergißt, daß es oft nicht anders möglich war. Die größten Schreihälse von heute haben nur deswegen eine weiße Weste, weil sie vorher nicht aktiv waren.“ Michael Fabriciu

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