Welch schöner Krieg

■ Pier Luigi Pizzi inszeniert die Berlioz-Doppeloper „Les Troyens“ zum Beginn des Spielbetriebs in der Pariser Opera Bastille

Frieder Reininghaus

Ein trojanisches Pferd (Design: Henri Marquet) begrüßte als kesse Bretterkonstruktion zwischen zwei hölzernen Wachtürmen die ankommenden Zuschauer an der Place de la Bastille - vor jenem glattpolierten Granitportal, welches den Aufgang zum neuen Pariser Opernhaus einfaßt und bewehrt. Monumental das eine wie das andere. Vor neun Monaten war in dem Prachtgebäude, das mehr einer Autofähre als einem Musentempel gleicht, unter andächtiger Teilnahme von hohen und höchsten Häuptern aus aller Welt die feierliche Inauguration zelebriert worden: eine Orgie der Staatssicherheitskräfte und ein von Robert Wilson diskret bebildertes Arienpotpourri quer durch das französische Repertoire des 19. Jahrhunderts. Dabei hatte Francois Mitterrand bei seinem Amtsantritt dekretiert, daß Paris nicht noch mehr zum Museum des vorigen Jahrhunderts erstarren dürfe. Der Präsident gab eine ganze Suite symbolträchtiger Bauwerke mit entschieden modernem Outfit in Auftrag - vom Großen Bogen in La Defense über die gläserne Pyramide im Hof des Louvre bis zum Flaggschiff des französischen Musiktheaters an der Rue de Lyon. In dessen Innerem wurde technisch hochgerüstet, wie sonst noch in keinem anderen Theater. Der musikalische Geist des 19. Jahrhunderts erscheint schon jetzt als die zentrale Instanz auf dem Weg dieses als „Volksoper“ konzipierten Unternehmens ins 21. Jahrhundert.

Die Produktionsästhetik gesellt sich als Wegbegleiterin hinzu. Sie verlängert nicht nur die auf die Außenansicht zielenden architektonischen Blickfänge der Modernisierung ins Innere, sondern zielt zugleich auf die Einbindung der Bühnenereignisse in die Alltagserfahrung der konsumgewohnten Zuschauer. Dabei mutet die Ausweitung der hochglänzenden kapitalistischen Oberfläche auf die Darstellung historischer Stoffe wie selbstverständlich an. Es dürfte kaum zufällig sein, daß der Präsident der Bastille-Oper, Pierre Berge, zuvor als Manager dem Duft- und Modeproduzenten Yves Saint Laurent diente; er ist von Haus aus Marketing-, nicht Theatermann; er hat seine ästhetischen Maximen aus der Zone der Wiederaufbereitung der menschlichen Oberfläche gewonnen. Konsequent auch, daß mit dem Architekten Pier Luigi Pizzi ein Großwesir des edlen Designs und Zeremonienmeister des lichten Opernscheins als Ausstatter und Regisseur der Eröffnungspremiere verpflichtet wurde.

Einer der Streitpunkte, die dann zum Rauswurf des überteuren musiklischen Parfümeurs Barenboim durch Saint Berge führte, war die Frage des rechten Stückes für den Auftakt und die Art des Signals, das mit seiner Zubereitung gesetzt werden sollte. Daniel Barenboim hatte in seiner Funktion als künstlerischer Leiter für einen von Patrice Chereau inszenierten Don Giovanni plädiert, der Generalmanager für die in der Popularitätsskala noch günstiger placierteCarmen in gefälligem Outfit. Doch die Launen der Modegötter sind so unergründlich wie ihre Ratschlüsse. Die Direktion des Luxusliners angelte sich den 36jährigen Myung-Whun Chung als neuen Musikkapitän und stach mit der Doppeloper Les Troyens von Hector Berlioz in die nicht eben ruhige See eines fortlaufenden Spielbetriebs. Eine schwere Fracht, ein sperriges Stück.

Bislang tat sich das französische Musikleben mit dieser Monumentaloper schwer. Die Uraufführung der Akte III bis V (als vieraktige Oper Les Troyens a Carthage) war 1863 ungenügend vorbereitet worden und wurde ein Flop, obwohl der Exotismus bereits in Mode kam und die Geschichte vom Helden, der seine Liebe den höheren Zielen opfert, und der verlassenen Geliebten, die sich in den Tod stürzt, nicht bloß als historisch hätte genommen werden müssen. Das bis 1864 umgearbeitete Werk hat Berlioz selbst nie ganz gehört. Die erste Aufführung fand 1913 in Stuttgart statt, die erste ungekürzte 1969 in Glasgow - zum 100. Todestag des Komponisten. So war die französische Einstudierung zum Beginn des Opernbetriebs in der Bastille denn noch ein deutliches Startsignal: Auch außergewöhnliche und große künstlerische Aufgaben werden angepackt.

Aber wie! Pier Luigi Pizzi, verantwortlich für alles, was sich auf der Bühne zeigen durfte, entwickelte seine Ausstattung aus Rauminstallationen von Anne und Patrick Poirier. Dieses Künsterpaar machte seit zwei Jahrzehnten durch die (philosophisch überwölbte) Wiederaneignung antiker und klassizistischer Bildmotive auf sich aufmerksam und gestaltet aus ihnen „Räume des Vergessens und der Erinnerung“. Doch von der „romantischen Spurensicherung“ der Poiriers bleibt bei der Nutzanwendung für die geschleckten Opernbilder Pizzis bestenfalls eine oberflächliche Analogie übrig. Die Patina, welche die Magier des europäischen Geschichtsraums ihren Torsi, Götterköpfen, Theaterruinen angedeihen ließen, wurde von Pizzi weggewischt. Die Trauer über das Ruinöse der Historie ist verflogen, die Melancholie angesichts unwiederbringlich verlorener Ganzheit verscheucht.

Pizzi zeigt postmodernen Regie-Chic: gewaltige Mauern, stets glatt und geschönt; ebenmäßige Treppen in maximaler Breite (just wie in der Reklame des Hauses Yves Saint Laurent), stark vergrößerte Gipsfiguren, frei nach dem, was man aus griechisch-römischen Museen kennt. Für die Liebe von Dido und Äneas im ersten und zweiten Karthago-Akt steht ein Baukastenlabyrinth bereit - so groß, daß man sich in ihm wie im Bühnentrakt der Opera Bastille verirren könnte. Dido geht nicht, wie von Berlioz vorgesehen, auf den Scheiterhaufen, sondern ersticht sich auf der Imitation einer steinernen Ottomane: Sepulkralkultur der Jahrhundertwende. Und das Schiff, das die dem Massaker vor und in Troja entkommenen Mannen um Äneas schließlich zur Gründung des römischen Weltreichs nach Italien bringt, ist vom Zuschnitt der gemäßigt modernen Sakralkunst, nichts Schlimmeres als das.

Das trojanische Pferd vorm Opernportal aber war eine doppelte Täuschung. Statt seiner zeigte sich ein glattes weißes Styroporgebilde, das zuerst in der Tiefe des Bühnenraums vorbeidefiliert, dann noch dreimal vergrößert die erste Gasse durchmißt: nur ein kleiner Teil der zehn Meter langen Pferdebeine ist in der wahrlich nicht kleindimensionierten Bühnenöffnung zu sehen. Die Funktion des Tiers, die Lust des Odysseus also, ging über solcher Veredelung des im griechischen Heerlager gezimmerten Tiers restlos verloren. In Weiß getaucht - und dem ungebrochenen Scheins der Schönheit willen - waren schon die beiden ersten Bilder, in denen sich nun wirklich Spuren des Dunkel finden müßten: ohne Gebrauchsspuren die Mauer des zehn Jahre lang belagerten Troja, in die gerade eine Bresche geschlagen wurde. Schwarz hebt sich wenigstens Grace Bumbry als finstere Hellseherin Kassandra von der ganz in Weiß getauchten Bibliotheksruine ab, in der sie ihre Prophezeiungen an den Mann zu bringen sucht. Aber auch hier noch nicht einmal eine Andeutung von Feuer und Ruß, Schweiß und Blut. Das muß ein schöner Krieg gewesen sein damals bei Troja!

Kapellmeister Chung kämpft sich und das vielhundertköpfige künstlerische Personal durch fast sechs Stunden Musik: stattlich (aber oft zögerlich) der Chor; auf dem Weg der Besserung das Orchester; überfordert von der Größe der Zuschauerhalle die Solisten - aber diesen Raum zu füllen, das verlangt wohl übermenschliche Kräfte. Durch den Mangel an optischen Kontrasten, durch die tendenzielle Bewegungsarmut und die Hängepartien der Protagonisten zieht sich der Abend quälend in die Länge - und so mancher der wackeren Kämpen, der sich zusammen mit 2.700 anderen Privilegierten einen Premierenplatz in der Bastille erstürmt hatte, ließ schon im vierten Akt das Kinn auf die Brust sinken. Nur die gehäuften technischen Pannen des auf seine Technik so stolzen Bauses sorgten gelegentlich für Kurzweil.

Im Halbschlaf mag manchem vorm inneren Auge eine schöne Blondine (im schwarzen Pelz neben einer Parfümflasche auf riesiger Marmortreppe sitzend) erschienen sein. Blinzelnd aber wurde man gewahr, daß die Treppe auf der Bühne da vorn ja nichts anderes war als die Fortsetzung der Yves-Saint -Laurent-Reklame auf der Rückseite des Programmbuchs. So ist der Verdacht nicht von der Hand zu weisen, daß der Fall der Trojaner an der Opera Bastille nur durch das Einschleusen eines trojanischen Pferdes in das Unternehmen ermöglicht wurde.

Frieder Reininghaus