Der letzte der Ersten

■ Mit Philippe Soupault starb vergangene Woche der letzte Begründer des Surrealismus

Zwei Männer an einem Tisch, zwei Wochen lang. Beide schreiben, was ihnen in den Sinn kommt, von Tag zu Tag schneller, bis es schließlich unmöglich wird, den Fluß der Wörter zu kontrollieren - aufs äußerste konzentriert und zugleich dem Innersten wehrlos ausgeliefert: „ecriture automatique“. Bei dem Selbstexperiment von Philippe Soupault und Andre Breton entsteht 1920 der erste surrealistische Text, die Champs magnetiques, das „Buch, mit dem alles anfing“, wie Louis Aragon, der Dritte im Bunde, schreibt.

Sein erstes Gedicht Depart - Aufbruch, Abgang schreibt Soupault „comme ca - einfach so“, als Zwanzigjähriger im Lazarett von Creil, in das er 1917 eingewiesen worden ist, nachdem man ihn als Versuchskaninchen für Typhusexperimente benutzt hatte. Die zehn Zeilen, hingeworfene Wörter, die sich wie ein Orakel lesen, werden von Apollinaire in der Avantgarde-Revue 'SIC‘ veröffentlicht. Durch ihn lernt Soupault auch die literarische Fauna des Quartier Latin kennen: Blaise Cendrars, Joyce, Paul Eluard, Max Jacob, Breton, den späteren Dadaisten Tristan Tzara, die Bouquinistin Adrienne Monnier.

1924 erscheint Bretons Manifest des Surrealismus. Soupault unterschreibt, nimmt aber - ständig auf der Suche nach Grenzüberschreitungen, nach dem „poetischen Abenteuer“

-auch an den Dada-Happenings von Tzara teil, dem Lieblingsfeind Bretons. 1926 wird Soupault aus dem Surrealistenkreis ausgeschlossen, weil er es gewagt hatte, einen Roman (Le Bon Apotre) zu schreiben, und - weil er, der Neffe des Autobauers Louis Renault, die Stirn hatte, englische Zigaretten zu rauchen.

Wie Arthur Rimbauld kehrt Soupault den Pariser Poeten -Zirkeln den Rücken und wird Reporter: „Alle Städte der Welt / Oasen unserer ausgehungerten Langeweile / voll frischer Säfte / den Erinnerungen der Einzelgänger und Besessenen“ (Westwego). In einem seiner letzten Interviews sagt er noch 1988: „Die einzige Möglichkeit zu reisen, ohne Geld zu haben, ist der Journalismus. Ich habe das literarische Milieu mit seinen ganzen Intrigen verlassen, weil ich es nur verachten konnte.“ USA, Moskau, Leningrad, Rostow - und das Berlin des Jahres 1932. Es macht Soupault offenbar keine Schwierigkeiten, sich auf das Geschäft des Tagesjournalismus umzustellen: 1938 wird er in Tunis Nachrichtenchef des damals schnellsten Mediums, des Radios.

Das Vichy-Regime wirft den Dichter-Reporter aus dem Sender und für acht Monate ins Gefängnis. Während der verachtete Kollege Jean Cocteau („Ich grause mich vor dieser Type - ein reiner Imitator“) höfliche Briefe an Petain verfaßt, gelingt Soupault die Flucht ins freie Alger.

Nach dem Krieg reorganisiert Soupault die US-Niederlassung von 'afp‘, reist als UNESCO-Beamter durch die Welt und leitet bis 1977 das Poesie-Programm des Radiosenders France -Culture. Bis zuletzt hatte er für die gutgeölten Edelfedern des Pariser Literaturbetriebs nur Verachtung übrig: „Was ich Literatur nenne, ist jene Manie der Leute, von sich selbst zu reden, als wären sie etwas Höherwertiges. Ein Mann oder eine Frau, die Poesie schreibt, denkt nicht daran, Erfolg zu haben, sie wollen sich nur ausdrücken, ohne jede falsche Anmaßung. Ein Poet ist niemals prätentiös.“ Philippe Soupault starb am 12. März in einem Pariser Altenheim.

smo

Auf deutsch sind erschienen: Begegnungen; Bitte schweigt; Ein großer Mann; Der Neger; Das letzte Spiel; Die letzten Nächte von Paris; Die Reise des Horace Pirouelle; Eine Frau allein gehört allen. Alle im Heidelberger Verlag „Das Wunderhorn“. Im Herbst erscheint in Frankreich der dritte und letzte Band seiner „Memoires de l'Oubli“.