: Verwunderte Blicke in Brasilien
Das neue Wirtschaftsprogramm von Präsident Collor überrascht vor allem die Reichen - unangenehm ■ Von Jan Lerch
Brasiliens Wirtschaft bebt - und das nach noch nicht einmal zehn Tagen Regierung des neuen Präsidenten Fernando Collor de Mello. Als er am vorletzten Donnerstag als erster freigewählter Präsident seit 29 Jahren sein Amt antrat, ließ die neue „Superministerin“ für Wirtschaft, Finanzen und Planung, Zelia Cardoso, für drei Tage die Banken schließen. Alle glaubten, sie wolle nur eine Zäsur, eine Abgrenzung zur völlig heruntergewirtschafteten Regierung Sarney deutlich machen. Doch als die Banken am Montag wieder öffneten, trauten die Brasilianer, besonders die reicheren, ihren Augen nicht: Kurzerhand hatte Cardoso sämtliche Gelder, die auf Spar- oder Girokonten, in Staatsanleihen oder Schuldverschreibungen angelegt waren, bei der Zentralbank eingefroren. Abgehoben werden dürfen pro Konto, ob geschäftlich oder privat, und pro Person nur 50.000 Cruzados, rund 2.000 DM. Der Rest ist auf 18 Monate festgelegt und wird dann, zu sechs Prozent verzinst, in zwölf Monatsraten ausgezahlt.
Damit entzieht das Gespann Collor-Cardoso dem Markt auf einen Schlag rund 100 Milliarden Dollar Liquidität, die Geldmenge auf dem Markt ist um mehr als zwei Drittel verringert. Gleichzeitig mit dieser radikalen Geldabschöpfung wurde die gerade zwei Jahre alte Währung, der Cruzado Novo, wieder durch den vorher gültigen Cruzeiro ersetzt. Die bisher gültige Dollarbindung wurde fallengelassen. Der Kurs des Cruzeiro soll sich frei am Markt bilden. Die Differenz zwischen offiziellem und Schwarzmarkt-Kurs verschwand sofort, statt 80 Cruzados Novos am Schwarzmarkt kostet der Dollar jetzt überall nur noch 45 Cruzeiros.
Fernando Collor befindet sich im Krieg - so sieht er es jedenfalls selbst. In hundert Tagen, so hat er es sich vorgenommen, will er die Inflation von gegenwärtig 80 Prozent im Monat und mehreren tausend im Jahr auf null heruntergeknüppelt haben. Drastisch hat er darum jetzt die Kaufkraft abgeschöpft. Zerschlagen will er auch die blühende Finanzspekulation.
Auf dem sogenannten Open Market werden in erster Linie Staatsanleihen, die ursprünglich mit langen Laufzeiten zur Finanzierung der öffentlichen Ausgaben dienen sollten, täglich oder stündlich zu schwindelerregenden Zinsen gehandelt. Der Staat, der sich ob seiner desolaten Finanzsituation auf diesem privaten Kapitalmarkt ständig versorgen muß, steht hilflos vor den Forderungen, anstatt Steuern einzunehmen. Viele Großunternehmen - nationale wie internationale - verdienen schon seit Jahren wesentlich mehr mit der Finanzspekulation auf dem „Open“ als mit ihrer eigentlichen Produktion. Investiert wird in den „Open“, nicht in die Wirtschaft.
Doch damit nicht genug vom Plano Collor: Die Steuern auf Vermögen und Börsengewinne sind drastisch erhöht worden. Der neue Präsident hat auch schon begonnen, den „marajas“ (Maharadschas), den zahlreichen bestens bezahlten Bürokraten, zu Leibe zu rücken, die nur über die in Brasilien allgegenwärtige Vettern- und Günstlingswirtschaft an ihre unnützen Posten gekommen sind. In einem ersten Schritt sollen jetzt 40.000 der 700.000 Staatsbediensteten entlassen werden. Einige der Horte der Korruption, wie das „Instituto Brasileiro de Cafe“ oder das „Insituto de A?ucar e Alcool“ hat Collor schon 24 Stunden nach seinem Amtsantritt einfach geschlossen. Die Privatisierung zahlreicher der 200 Staatsbetriebe, das Herzstück seines Umbauprogramms, ist allerdings noch nicht umgesetzt - das geht halt nicht über Nacht.
Die Reaktionen in Brasilien schwanken zwischen verhaltenem Optimismus und Panik. Fast einhellig warnen die Ökonomen aufgrund des massiven Entzugs von Liquidität vor der unausweichlichen Rezession, die alles zunichte machen und eine Massenarbeitslosigkeit hervorrufen könnte. Einzelne Betriebe haben schon die Produktion eingestellt, Collor selbst war bereits vor Ort, um Unternehmer zum Weitermachen zu überreden oder mit finanziellen Sanktionen zu drohen. Werkskantinen blieben geschlossen, weil die Betriebe schlicht kein Geld haben, um das Essen zu bezahlen.
Die Kontoinhaber haben mit einem wilden Handel ihrer gesperrten Konten begonnen; die stillgelegten Beträge werden unter erheblichem Verlust verkauft. Für viele aus der Mittelschicht ist über Nacht das geplante Auto oder die Reise hinfällig, aber auch ganze Existenzen sind vernichtet. Dennoch, die Mehrzahl der Brasilianer, die ohnehin kaum etwas zu verlieren hat, unterstützt den - noch - populären Präsidenten bei seiner Gratwanderung. Sehen sie doch, daß er etwas tut, die Strukturen angreift.
Genau das hatte er versprochen, und genau das haben ihm speziell die Anhänger des Sozialisten „Lula“ von der Arbeiterpartei PT, die er bei den Wahlen im Dezembler knapp schlug, nicht abgenommen. Stammt der Bilderbuch-Yuppie Collor doch selber aus der traditionell herrschenden Oberschicht Brasiliens. Schon mit seinem Kabinett, in dem der bekannteste brasilianische Umweltschützer, Jose Lutzenberger, Umweltstaatssekretär ist und mit der Wirtschaftsprofessorin Cardoso erstmals eine Frau, noch dazu als „links“ bekannt, für gleich alle Männerdomänen verantwortlich ist, verwirrte er Rechte und Linke. Vollends dürfte ihm das nun mit seinem Maßnahmenbündel gelungen sein.
Dabei ist sein Ziel klar: Fernando Collor will Brasilien zu einem Land des modernen Kapitalismus machen. Dafür soll mit den jetzt getroffenen dirigistischen Entscheidungen die Grundlage gelegt werden. Am Ende seiner ersten Amtswoche verkündete er zudem den ausländischen Gläubigern, bei denen das höchstverschuldete Land der Welt mit 114 Milliarden Dollar in der Kreide steht, zunächst würden überhaupt keine Schulden mehr bezahlt und später nur noch fünf Milliarden Dollar pro Jahr. Bisher zahlte Brasilien das Dreifache.
Eine Reaktion der Gläubiger gibt es noch nicht. Die warten wohl erst mal ab, ob das, was noch niemand wagte, scheitert oder noch vom mehrheitlich mit den alten Kräften beherrschten Kongreß zu Fall gebracht wird, und gucken derweil - wie so viele - mit großen Augen nach Brasilien.
Jan Lerch
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