Who is who auf dem Stimmzettel

Die kommunistische Staatspartei ist nicht spurlos verschwunden - mindestens sechs ihrer Erben werben am Sonntag um Wählerstimmen. Die Ungarische Sozialistische Partei (USP) ist von den Reformkommunisten beim Kongreß der Kadar-Partei USAP im Oktober 1989 gegründet worden und deren „gesetzliche Nachfolgerin“. Von den einst mehr als 700.000 Mitgliedern der Staatspartei traten knapp 50.000 in die neue Organisation über. In ihrem Programm verurteilt sie das „bürokratische und diktatorische System“ zwischen 1949 und 1989; sie will einen demokratischen Sozialismus aufbauen und tritt für die Auflösung der Militärblöcke ein. Im soeben aufgelösten Parlament hatte sie noch 137 Abgeordnete; Parteipräsident Rezsö Nyers wäre schon zufrieden, wenn ein Drittel dieser Zahl erreicht wird.

Die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei (USAP) ist der verbliebene dogmatische Flügel der gleichnamigen einstigen Staatspartei, der die Auflösung vom Oktober 1989 nicht akzeptiert. Nach nicht überprüfbaren eigenen Angaben hat sie 82.000 Mitglieder. Die politische Krise in Ungarn ist ihrer Ansicht nach durch die USP-Reformer ausgelöst worden. Sie verurteilt die Zulassung ausländischer Investitionen und fordert die „Erfüllung der Bündnisverpflichtungen“ des Landes im Warschauer Pakt.

Die Patriotische Wahlkoalition ist die eigens für diese Wahl gegründete Partei der Patriotischen Volksfront, der Dachorganisation aller früheren kommunistischen Transmissionsbewegungen. Die Ungarische Volkspartei besteht vor allem aus Ex-Mitgliedern der USAP und der Volksfront, die jetzt die Idee der dörflichen Selbstverwaltung propagieren. Sie hat eine gemeinsame Liste mit jener Organisation, die unter dem Namen Partei der Unternehmer kandidiert. Deren Mitglieder rekrutieren sich aus dem Kreis ehemaliger ländlicher KP-Manager.

Der Agrarbund dient ebenfalls der früheren Machtelite dazu, sich ins Mehrparteiensystem hinüberzuretten. In seinem Programm tritt er für die Erhaltung der Kolchoswirtschaft ein. Die geistigen Väter des Agrarbundes sind Präsidenten Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften („grüne Barone“).

Sozial-liberale Gruppen

Diese Parteien waren neben der (zu den Konservativen zählenden) Partei der Kleinlandwirte die Sieger jener Volksabstimmung, bei der im November 1989 die sofortige Wahl eines Staatspräsidenten abgelehnt wurde. Der Bund Freier Demokraten (BFD) ist als Nachfolgepartei der einstigen demokratischen Opposition im November 1988 gegründet worden und hat heute etwas mehr als 15.000 Mitglieder in 320 lokalen Organisationen. Erklärtes Ziel ist der Aufbau einer modernen Gesellschaft westlichen Typs; abgelehnt wird die Verknüpfung des Kapitalismus mit irgendwelchen Werten des realexistierenden Sozialismus. Er besteht aus etwa gleich starken Flügeln der Liberalen und Sozialdemokraten. „Wir wollen die Marktwirtschaft nicht idealisieren, wissen, daß auch diese Gesellschaften nicht vor schwerwiegenden Ungerechtigkeiten gefeit sind. Würden wir aber das Reichwerden abzuwürgen versuchen, müßten wir auf die Marktwirtschaft verzichten.“

Der Bund Junger Demokraten (Fidesz) ist im März 1988 von Jurastudenten gegründet worden. Er versteht sich auch als „Aktionspartei“. Im Mittelpunkt des Programms steht das radikale Freidenkertum. Fidesz hat als erste Partei den sofortigen Abzug der sowjetischen Truppen gefordert. Die Mitgliederzahl beträgt etwa 6.000.

Die Sozialdemokratische Partei in Ungarn (SDP) wurde 1890 gegründet und 1948 gewaltsam mit der KP verschmolzen. Im Januar vorigen Jahres wurde sie wiederbelebt. Das Jahr 1989 verging mit ständigen Führungskrisen und inneren Kämpfen; die angegebene Mitgliederzahl von 15.000 wird aus diesem Grund vielfach bezweifelt. Ziel der Partei ist der Ausbau einer bürgerlichen Demokratie westlichen Typs und Einführung einer sozialen Marktwirtschaft. Die Privatisierung soll durch Ausgabe von Vorzugsaktien an die Beschäftigten der Betriebe verwirklicht werden.

Die Grüne Partei in Ungarn steht am ehesten dieser sozial -liberalen Mitte nahe. Sie wurde im November 1989 gegründet und hat gegenwärtig nur 600 Mitglieder.

Nationale und Konservative

Diese Gruppe blickt den Wahlen mit der größten Zuversicht entgegen, gehören doch zwei der drei wichtigsten Parteien des ungarischen politischen Lebens zu ihr. Sie wird nach den Wahlen möglicherweise die Regierungskoalition unter Leitung von Jozsef Antall, dem Vorsitzenden des UDF, bilden.

Das Ungarische Demokratische Forum (UDF) ist mit Geburtshilfe des Reformkommunisten Imre Pozsgay bereits im September 1987 entstanden. Jetzt dominiert eine christdemokratisch-liberal-konservative Tendenz. Heute hat das Forum in 327 Orten eigenständige Organisationen mit insgesamt 21.000 Mitgliedern. Die Unterstützer rekrutieren sich aus der mittleren Bürgerschaft der Kleinstädte. Der nationale Charakter der Organisation wird für ebenso wichtig erachtet wie die Verwirklichung der Demokratie durch Ausbau der Selbstverwaltung. Das Forum tritt für Reprivatisierung ein, allerdings schrittweise und kontrolliert, damit ein möglichst großer Teil in ungarischen Händen bleibt. Als Fernziel wird die Neutralität Ungarns angestrebt.

Die Unabhängige Partei der Kleinlandwirte ist eine Organisation mit historischen Traditionen, die bei den Wahlen 1945 die absolute Mehrheit erreichte und den ersten Präsidenten der Republik stellte. Sie war in der Revolutionsregierung von 1956 durch einen Minister vertreten. Die Partei wurde im November 1988 wiedergegründet; sie hat heute mehr als 50.000 Mitglieder. Ihre Popularität hat sie dem Versprechen zu verdanken, die Landbesitzverhältnisse von 1947 wiederherzustellen und alle Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften zu eliminieren. In jüngster Zeit hingegen ist immer häufiger zu hören, daß sie der „natürliche Verbündete“ des Forums sei.

Die Christdemokratische Volkspartei ist eine vom Klerus unabhängige Organisation auf Basis der christlichen Soziallehre. Ihr Ziel ist das Entstehen von Eigentum, das „durch das Gemeinwohl des christlichen Gedankenguts begrenzt“ wird. Sie ist im März 1989 gegründet worden und hat 3.200 Mitglieder.

Tibor Feny