: Standbild: Ein kalifornisches Wunder
■ Richtung Deutschland
(Richtung Deutschland, Di., 27.3., ZDF, 22.10 Uhr) Der Zug Richtung Deutschland rollt unaufhaltsam - weder Ochs‘ noch Esel halten ihn auf. Am Dienstag abend machte er kurz Zwischenstation im schönen Bottrop. Das ZDF lud Experten und Publikum in die Werkshalle eines Umwelttechnikunternehmens, um die Frage nach den Kosten des deutschen Vereinigungsprozesses in die Bahnen optimistischer Erwartungen zu lenken.
Der Modellversuch gelang so vollkommen, daß dem Fernsehzuschauer das channel-hopping zur schönen Pflicht wurde. Während ZDF-Moderator Michael Jungblut, geborener Volksschullehrer, die Bottroper Schulklasse für eine auch persönlich finanzierte Einheit und gegen die 35-Stunden -Woche brav abstimmen ließ, tobte im Kölner RTL-Studio die Explosiv-Debatte über die „autofreie Innenstadt“. Es fiel schwer, nach Bottrop zurückzuschalten, als Porsche -Fahrer und Auto-Idiot Franz Burbach im dicksten Kölsch mehr Freiheit für den Sechszylinder forderte: „Wem dat zuviel ist, der kann ja aufs Land ziehen!“ In Richtung Deutschland hingegen schien sich die reine Vernunft so zwanglos durchzusetzen wie die Frühlingssonne. Unisono bekundeten Ex-Superminister Karl Schiller, Dresdner-Bank -Chef Röller, Gerhard Fels vom „Institut der deutschen Wirtschaft“ und die SPD-Finanzexpertin Matthäus-Meier, „Opfer“ sei das falsche Wort für den Finanzierungsbedarf des DDR-Aufbaus. „Es wird keinen Wohlstandstransfer von Bottrop nach Gera geben“, versicherte Bankier Röller, private Kapitalinvestitionen und die Kapitalisierung des bisherigen DDR-„Volkseigentums“ würden den „gewaltigen Strukturwandel“ vorantreiben. Zudem sei die DDR „kein armes Land“, wie Röller mitteilte, in der EG läge sie vor Irland und Griechenland an achter Stelle.
Bei so viel Entwarnung und Wachstumsoptimismus zwischen „Wirtschaftswunder“ (Matthäuser-Meier) und „kalifornischem Wunder“ (Fels) mochten nur ein paar Bottroper die schöne Harmonie stören. Sie wurden mit dem Hinweis auf Staatsanleihen, Haushaltsumschichtungen und „Anschubfinanzierung“ ruhiggestellt. Deutschland - ein einziger Volkshochschulkurs in Sachen Marktwirtschaft? Freiheit als Einsicht in die volkswirtschaftliche Notwendigkeit? Nur das Umschalten zu RTL-Explosiv bewahrte die lebendige Erinnerung an gesellschaftliche Konflikte, die sich nicht umstandslos in den freundlichen Rauch von Ludwig Erhards Zigarre auflösen. Gespannt warten wir auf den nächsten ZDF-Weiterbildungskurs: Richtung Deutschland - Was kostet die (Stasi-)Vergangenheit? Amnes(t)ie - was sonst?!
Reinhard Mohr
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen