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Nickelodeons für Offiziere

■ Die Legende der „wilden Anfänge“ der Kinematographie wird von neueren amerikanischen Forschungen in Frage gestellt

Tilo R. Knops

Die wilden Anfänge“ der Kinematographie gehören zu den zentralen Mythen der Filmgeschichte. Danach ist der Entstehungsprozeß des Kinos aus dem Anwachsen der Klasse der Fabrikarbeiter und der neuen Unterschichten in den urbanen Ballungsgebieten zu erklären. Seine erste Heimat fand der Film in den Varietes, in Schaubuden, in Zirkuszelten, den Vergnügungsstätten der kleinen Leute. Als die Varietes dem Film zu eng wurden, eroberte er sich die Jahrmarktbude, die ersten Wanderkinos entstanden. Während hier die Unternehmer ihre oft selbstproduzierten Filme einem wechselnden Publikum bis zum Verschleiß vorführen konnten, ermöglichten ein wachsendes Filmangebot und erste Verleihbestrebungen die Einrichtung sogenannter Ladenkinos um 1905, die sich, heißt es, oft an den Ausgängen von Betrieben oder in dichtbesiedelten Arbeitervierteln befanden.

Die Filme der Frühzeit, die an Vaudeville und Music Hall, Burleske, Musical und Aktualitätenshow ausgerichtet waren, galten in der klassischen Filmgeschichtsschreibung als primitiv. Die Regeln und Gesetze des filmischen Mediums waren noch nicht von den Pionieren des erzählenden Films wie E.S. Porter und D.W. Griffith entdeckt. Im US-Kino der Sahnetortenschlachten und des unprätentiösen Nonsense konnten sich die sprachkundigen Immigranten aus Europa mit dem american way of life vertraut machen. Mit der zunehmenden Industrialisierung kam, so die Legende, das Ende für die kritische obrigkeitsfeindliche Haltung des Slapstick -Kinos, so formal innovationsreich es war. Die als Literatisierung bekannte Entwicklung, eine im Interesse breiterer Abnehmerschichten angezielte Verbürgerlichung, bedeutete die Ausrichtung an der Handlungslogik realistischer Romanliteratur des 19.Jahrhunderts. Grund genug, scheint es Filmologen und Cineasten bis heute, die Suche nach den autonomen, nicht-literarischen Anfängen fortzuführen.

Etwa seit Mitte der siebziger Jahre begann eine neue Generation von Filmwissenschaftlern vor allem in den USA, aber auch in Großbritannien, Kanada und Frankreich, diverse Legenden der Filmgeschichte neu zu erforschen. Autoren wie Russell Merritt, Robert C. Allen, Kristin Thompson und David Bordwell verbanden filmtheoretisch präzisierte Fragestellungen mit historiographischer Akribie und unterzogen auch den Mythos der autonomen Ursprünge einer Revision. Primärquellen wie Geschäftsberichte, Versicherungsunterlagen und Branchenjournale wurden untersucht und mit Standortanalysen, Preisen und zeitgenössischen Beschreibungen verglichen.

Danach spielten in den USA Immigranten, Ladenkinos und Slapsticks sicherlich eine wichtige Rolle, aber das Bild ist unvollständig und letztlich irreführend. Vergessen blieb, daß kaum jemand in der Branche, am wenigsten die zum Mittelstand aufgestiegenen Kinounternehmer, die bekanntlich häufig selbst Einwanderer waren, an einem proletarischen Publikum interessiert war. Merritt führt das - sicherlich extreme - Beispiel der Nickelodeons (die billigen Ladenkinos mit ungefähr 100 Plätzen, Eintritt fünf Cent) im Hafenviertel von Portsmouth und Charlestown an, wo Offizieren ermäßigter Eintritt offeriert wurde, während den Mannschaften der Eintritt verwehrt war; ein Zustand, der erst durch massive Boykottdrohungen von Militärführung und Gouvernement beseitigt werden konnte. Auch lagen, wie im Falle von Boston, New York und anderen Städten nachgewiesen wurde, die Kinos der Nickelodeon-Ära selten in Arbeitervierteln. Vielmehr fand man sie im allgemeinen in zentralen Einkaufsgegenden, an belebten Verkehrsstraßen, für die Arbeiterbevölkerung zwar erreichbar, aber näher zu mittelständischen Geschäften gelegen, und vor allem in der Nähe der Vergnügungsviertel, in unmittelbarer Nachbarschaft der Theater, Varietes und Vaudevilles.

Die bisher zu wenig berücksichtigte Tatsache, daß die frühen Kinounternehmer sich eng an das Vorbild der Vaudevilles hielten, in denen kinematographische Vorführungen ja auch vor, während und nach dem Nickelodeonboom üblich waren, spricht dafür, daß eine Ausrichtung an den Vorlieben der Mittelklasse die Filmgeschichte von Anbeginn prägte. Weil die Nachfrage nach 1905 speziell, infolge der billigeren Nickelodeons stieg, ist es sogar denkbar, daß die Arbeiterklasse das Kino genau zu der Zeit verstärkt aufsuchte, die bislang als „Phase der Verbürgerlichung“ beschrieben worden ist. So argumentieren Bordwell und Thompson.

Auch die Vorstellung von der Entwicklung der filmischen Konventionen der Frühzeit ist zu revidieren. Sie vollzog sich danach weder als ein lineares Wachsen und Werden filmischer Gesetze, noch als eindeutiger Bruch des illusionistischen, literarisierten Erzählkinos mit den autonom-plebejischen Ursprüngen. Die Autoren plädieren dafür, zwei verschiedene, wenn auch von Anbeginn narrativ ausgerichtete Formen auseinanderzuhalten, die primär von der Länge und der Produktionsweise bestimmt waren: Die Kürze der Filme vor Porter machte die Einführung komplexerer Charaktere, psychologische Motivierung der Handlung usw. unmöglich. Mit dem Nickelodeonboom ab 1905 aber setzten sich immer längere Filme durch, industrialisierte Produktionsweisen wurden erforderlich. Vor allem durch die Mitarbeit professioneller Schreiber, Journalisten und bewährter Autoren von „playlets“ (Kurzfassungen von Erfolgsstücken) und „short stories“ etablierten sich von 1908 bis 1917 die berühmten „continuity„-Regeln, der fließende Schnitt des klassischen Erzählkinos. Dieser Prozeß, der von der Einsicht in die spezifisch filmischen Zusammenhänge von dramatischer Expressivität und naturalistischer Spielweise, emotionaler Wertigkeit von Einstellgrößen, Timing des Schnitts und Musikeinsatz gespeist wurde, war also keine bloße Anwendung abstrakter Erzählprinzipien der Literatur auf filmische Bilder. Mit der unstrittigen Standardisierung entstand durchaus auch etwa Neues, Drittes. Thematisch hatten die Filme allein deshalb kaum Bezüge zum Alltag der Arbeiter und Immigranten, weil es sich, bis um 1909, zu 90 Prozent um französische Produktionen handelte. Die Kinos in Deutschland

Innerhalb Deutschlands unterschied sich die Kinoentwicklung Berlins, wo es 1907 schon über 300 Kinos gab, von der anderer Großstädte. Während auf dem Lande kein quantitativ signifikantes Unterschichtspublikum existierte, wurden Filme gemeinsam mit Variete-Attraktionen einem gemischten Publikum vorgeführt. Die ersten Kinos entstanden auch hier im Umfeld der Vergnügungsviertel, in der Nähe der Theater und in Geschäftsstraßen; wenige Kinos lagen in Arbeitervierteln, keine in großbürgerlichen Wohngegenden. Auch hierzulande bestand ein breites Spektrum verschiedenster Abspielstätten. „Je nach Stadtteil“, berichtet das 'Berliner Tageblatt‘ am 17.6.1907, „sind sie vornehmer oder weniger geschmackvoll ausgestattet, mit Schankstätten, Logen, Rängen, I. und II. Plätzen, Elektrischer Beleuchtung, Musikinstrumenten...“.

Nicht, daß es die kleinen Laden- und Winkelkinos der Legende nicht gegeben hätte - gerade in Berlin dürften sie besonders verbreitet gewesen sein, weil dort kaum so viele Tanzhallen, Säle und Ballsäle zum Umbau in Großkinos verfügbar waren, wie es die 1905 erfolgte Verzehnfachung binnen Jahresfrist erfordert hätte. Die Tendenz dürfte aber, wie in den USA, von Anfang an (ab 1904/05) zum großen, luxuriösen Filmtheater gegangen sein. Im 'Generalanzeiger‘ vom 28.6.1908 räumt ein Kinounternehmer nur finanziell gut fundierten Kinogesellschaften für die Zukunft Verdienstmöglichkeiten ein. Ohne vornehme Einrichtung und einen häufigen Wechsel der Filme müsse man auf das bessere Publikum verzichten, auf das man besonders in Provinzstädten angewiesen sei. Das Geheimnis des Erfolgs habe sich dem Schreiber dieser Zeilen erschlossen, als er „vor einigen Jahren (!), von Frankfurter Kapitalisten beauftragt (worden sei), in ganz Westdeutschland Lichtbildtheater zu errichten. Es wurden auf einen Schlag in Straßburg, Mannheim, Ludwigshafen, Frankfurt/M., Köln, Düsseldorf, Elberfeld, Essen, Brüssel usw. Lokale in der besten Geschäftslage gemietet.“ Mangelnde Geschäftstüchtigkeit, zu geringes Eigenkapital und Fehleinschätzung der im neuen Medium schlummernden Möglichkeiten werden allerdings immer wieder als Ursachen für das vergleichsweise ärmliche Erscheinungsbild mancher Ladenkinos hierzulande genannt.

Demoskopische Erhebungen zur Publikumsstruktur des frühen Kinos gibt es bekanntlich nicht; man ist auf zeitgenössische Beschreibungen angewiesen. Danach bestand das Publikum in den Nachmittagsstunden vorwiegend aus Kindern, Arbeitslosen und Dienstmädchen, während abends einfach gekleidete junge Männer, vermutlich Arbeiter, Angestellte und Laufburschen in der Mehrzahl waren. Aber ein Fehlen der bürgerlichen Schichten ist unwahrscheinlich; zu zahlreich sind die Berichte von Damen, die incognito, halb neugierig, halb schaudernd, hereinschauten, zu häufig die Klagen der Volksschullehrer über die „Verbrecherschulen“ und die Gutachten der Mediziner über die Gesundheitsschädlichkeit, zu groß die Faszination vieler bürgerlicher Intellektueller und Schriftsteller für das neue Medium. „Kein Tag ohne Kino“ lautete ihr Motto, natürlich zu „Studienzwecken“, für Artikelserien wie Kracauers Die Ladenmädchen gehen ins Kino. Ohne Aussicht auf ein bürgerliches Publikum wären jedenfalls die Großunternehmer wohl davor zurückgeschreckt, schon 1909 „gesellschaftsfähige“ Theater ausschließlich einem „wohlhabenden, verwöhnten und kunstverständigen Publikum“ anzupreisen.

Die öffentliche Meinung unterschied sich, wie es die US -Filmwissenschaftlerin Miriam Hansen vergleichend analysiert hat, in ihrer Haltung zum Kino von der in den USA, wo der Weg in die moderne Konsumgesellschaft bevorstand. Während dort die Fähigkeit herausgestrichen wurde, die Massen zu integrieren, als „democracy's theatre“, fürchtete man hierzulande die Kinos, in denen erstmals die unteren Schichten augenfällig vertreten waren, wegen ihres „egalitären Appeals“. Hinzu kam die Angst vor der fremdländischen Übermacht. Den deutschen Kinoreformern, die auf eine Oberaufsicht über die Filmindustrie drangen, blieben die populärkulturell verwurzelten ausländischen Filme formal wie inhaltlich fremd.

Der schon von Emilie Altenloh in der Soziologie des Kinos 1914 vermerkte tiefere Grund für die Schwäche der deutschen Filmindustrie war der Mangel an geeigneten Eigenproduktionen. Man wollte, mit Natur- und Lehrfilmen, mit Nordlandsfahrten Kaiser Wilhelms II. und Tonbildern wie der von der Soubrette Herzog-Berlin gesungenen Gnadenarie aus der Fledermaus das Publikum anziehen. Aber das zog Griffiths The Adventures von Dolly, amerikanische und französische Melodramen und Sensationsfilme bei weitem vor. Der Graben zwischen höherer und niederer Kultur war hierzulande unüberwindlicher als anderswo.

Eine ausführlichere Fassung erscheint in Kürze in Knut Hickethier/Gesellschaft für Film- und Fernsehwissenschaften (Hrsg.): Theorien filmischer Wahrnehmung. Rainer Bohn Verlag. Edition Sigma 1990.

Eine Anthologie zur Revision der Filmgeschichtsschreibung der Frühzeit hat John Fell herausgegeben: Film Before Griffith. University of California Press. Berkeley. Los Angeles. London 1983. In Kürze erscheint in einer Reihe des British Film Institute, London, ein von Thomas Elsaesser herausgegebener Reader: Early Cinema. Space - Frame Narrative.

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