: Die sowjetischen Internierungslager in der DDR
Im DDR-Gulag interniert wurden ab April 1945 Kriegsverbrecher, Nazis, „Klassenfeinde“ und „möglicherweise gefährliche Deutsche“ ■ Von Walter Süß
Die Aufdeckung der Massengräber im „Mühlenholz“ bei Neubrandenburg hat den düstersten Bodensatz verdrängter DDR -Geschichte ans Tageslicht geholt. Die etwa sechseinhalbtausend Toten aus dem sowjetischen Internierungslager „Fünfeichen“, die dort und - nach Augenzeugenberichten - auch auf dem „Friedhof am Fuchsberg“ verscharrt worden sind, sind nur ein Teil jener etwa achtzigtausend Opfer, die das Gulag-System unter sowjetischer Regie auf deutschem Boden gefordert hat. Weitere Internierungslager gab es in Berlin -Hohenschönhausen, in Sachsenhausen bei Oranienburg, im sächsischen Bautzen, in Buchenwald bei Weimar, in Frankfurt/Oder, in Jamlitz bei Lieberose, in Ketschendorf bei Fürstenwalde, in Mühlberg/Elbe nördlich von Riesa, in Torgau und in Weesow bei Berlin.
Stalin: „Jeder führt
sein eigenes System ein“
Im April 1945, als „Fünfeichen“ eingerichtet wurde, führte Stalin in Moskau ein Gespräch mit dem jugoslawischen Partisanenführer Milovan Djilas und erläuterte ihm dabei seine Sicht der Nachkriegsentwicklung: „Jeder führt sein eigenes System ein, so weit seine Armee vordringen kann. Es kann gar nicht anders sein.“ Die Lager waren ein wesentlicher Bestandteil des stalinistischen Systems, so daß ihre Einrichtung in den Gebieten, die durch die Rote Armee vom Nationalsozialismus befreit und zugleich von ihr besetzt worden waren, eine logische Konsequenz war.
Die Internierungslager waren jedoch keine rein sowjetische Erfindung. Sie einzurichten, ergab sich auch aus dem „Potsdamer Abkommen“. In ihm war dekretiert worden: „Personen, die für die Besetzung und ihre Ziel gefährlich sind, sind zu verhaften und zu internieren.“ In der Direktive 38 des Alliierten Kontrollrats vom 12.Oktober 1946 wurde dieses Vorhaben bekräftigt. Nicht nur Kriegsverbrecher und Nazis sollten eingesperrt werden, beschlossen wurde auch die Internierung „von möglicherweise gefährlichen Deutschen“. Wer als „möglicherweise gefährlich“ betrachtet wurde, das hing von der jeweiligen Siegermacht und ihrer aktuellen Politik ab.
In der ersten Phase - gegen Kriegsende und in den Monaten danach - wurden kleine und mittlere Nazis, ehemalige Wehrmachtsangehörige und staatliche Amtsträger interniert. Angesichts der grauenhaften Verbrechen, die die deutsche Besatzungsmacht in der Sowjetunion, in Polen und in den anderen eroberten Gebieten verübt hatte, war eine solche Vorsichtsmaßnahme gegen Personen, die das Naziregime mitgetragen hatten, verständlich. Es handelte sich, wie ein übergelaufener Offizier der „Sowjetischen Militäradministration in Deutschland“ (SMAD) erklärte, um „eine Art Sicherheitsverwahrung“.
Doch auch damals schon sind völlig unschuldige Menschen in das Räderwerk geraten. So wurden viele Jugendliche verhaftet, die - ohne irgendwelche Beweise - beschuldigt wurden, Mitglieder der „Werwolf„-Partisanenorganisation zu sein, die von dem Leiter der NSDAP-Parteikanzlei Martin Bormann in den letzten Kriegswochen ohne sichtbaren Erfolg propagiert worden war. Allein in dem Lager Ketschendorf bei Fürstenwalde wurden 1.700 Jugendliche unter dieser Anschuldigung interniert, keiner von ihnen erhielt ein Gerichtsverfahren, etwa die Hälfte von ihnen starb. Auf dem Massengrab, in dem ihre Leichen vergraben wurden, steht heute eine Neubausiedlung.
„Klassenfeinde“ aus der „bürgerlichen Elite“
Entsprechend der stalinistischen Ideologie und ihrem Verständnis vom Charakter des Faschismus wurde der Feindbegriff auch auf „Klassenfeinde“ ausgedehnt. Als Internierungsgrund genügte die Zugehörigkeit zur „bürgerlichen Elite“, vor allem dann, wenn eine solche Person denunziert wurde. Ob es nach der Verhaftung zu einem Verfahren vor dem sowjetischen Militärtribunal kam oder ob ein Beschuldigter direkt in ein Lager eingeliefert wurde, war für diesen relativ unerheblich, denn die Verfahren waren eine reine Formsache. Es wurden keine Zeugen gehört. Einen Verteidiger hinzuzuziehen, betrachtete man als überflüssig, da der Staatsanwalt der „sozialistischen Gesetzlichkeit“ verpflichtet sei. Die Verhandlung erfolgte auf Russisch, der Dolmetscher konnte häufig nur schlecht Deutsch. Nach wenigen Minuten wurde das Urteil gesprochen.
In dem Maße, wie neue Herrschaftsverhältnisse in der Sowjetischen Besatzungszone eingerichtet wurden, weitete sich auch der Kreis der „möglicherweise gefährlichen“ Personen aus. Ein ehemaliger Häftling aus Buchenwald, wo nacheinander etwa 32.000 Menschen eingesperrt waren, berichtet: „Die Internierten bestanden aus Arbeitern, Bauern, Handwerkern, Kaufleuten, Ingenieuren, Ärzten, Beamten, Wissenschaftlern usw. Parteigenossen, SA- und SS -Leute, ehemalige aus englischer und amerikanischer Gefangenschaft entlassene Soldaten, aber auch Kommunisten und SPD-Leute fehlten nicht.“ In den „Speziallagern“, wie sie vom sowjetischen Innenministerium genannt wurden, waren meist keine Prominenten inhaftiert, dennoch gab es unter den Gefangenen einige bekannte Namen von ausgewiesenen Gegnern des Nationalsozialismus. So starben dort aus dem Kreis derjenigen, die am 20. Juli 1944 versucht hatten, die Diktatur zu stürzen: Justus Delbrück, Ulrich von Sell und Ludwig Münch. Wie groß der Anteil derjenigen war, die - ohne NS-Belastung - wegen Gegnerschaft zum Stalinismus eingesperrt wurden, ist unbekannt. Der liberaldemokratische 'Morgen‘ sprach kürzlich in einem Artikel von etwa 18 Prozent der Internierten. Selbst über ihre Gesamtzahl gibt es nur grobe Schätzungen. Sie schwanken für die elf Lager auf dem heutigen Gebiet der DDR zwischen 130.000 und 180.000.
In fast allen Schilderungen aus diesen Lagern steht der Hunger an vorderster Stelle. Insbesondere in den ersten Monaten und dann im Winter 1946/47 war die Verpflegungssituation katastrophal. Während die erste Phase extremen Hungers noch mit der allgemeinen Lage erklärt werden kann, stand hinter der zweiten Phase anscheinend bewußte Politik, denn in allen Lagern wurde nach dem 4. November 1946 die Verpflegungsration fast halbiert: auf etwa 1.000 Kalorien pro Tag. Die geschwächten Gefangenen wurden Opfer von Tuberkulose, Infektionskrankheiten, Dystrophie.
Zum Hunger kam das Lagerregime. Anders als im sowjetischen Gulag oder auch in den KZs der Nazis mußten fast alle Internierten nicht arbeiten. Das war jedoch kein Privileg, sondern bedeutete Verurteilung zu völliger Untätigkeit. Lesen und Schreiben war ebenso verboten wie zu singen oder Diskussionsrunden zu organisieren. Die Isolation von der Außenwelt war total: Die Angehörigen wurden weder über die Verhaftung noch über den Internierungsort informiert; jeder Briefverkehr war untersagt; bis 1947 durften auch keine Zeitungen gelesen werden. Diese Politik wurde fortgesetzt durch die Isolierung zwischen den einzelnen Baracken und schließlich - bedingt vor allem durch den Hunger - auch zwischen den einzelnen Gefangenen. Anders als in den Nazi -KZs gab es keine systematischen Ermordungen, keine Menschenversuche, keine öffentlichen Folterungen und keine täglichen „Erschießungen auf der Flucht“. Dennoch ist mehr als die Hälfte der Internierten umgekommen, Folge vor allem von Krankheiten, denen ihr in jeder Hinsicht geschwächter Körper ausgesetzt war.
Die Auflösung der Lager erfolgte in zwei Stufen. Die erste große Entlassungswelle war im Juli/August 1948. Die sowjetische Militärregierung hatte zuvor, im Befehl Nr.35 vom 26. Februar, ein Ende der Entnazifizierung proklamiert, mit der Gründung der „Nationaldemokratischen Partei Deutschlands“ im Mai 1948 wurde versucht, die „kleinen Nazis“ in den politischen Aufbau zu integrieren. Ihr Rekrutierungspotential wurde nun entlassen. Nach sowjetischer Darstellung handelte es sich dabei um etwa 28.000 Menschen. Zurück blieben vor allem „Klassenfeinde“ und politische Gegner. Sie wurden nun in drei großen Lagern zusammengefaßt: den ehemaligen Nazi-KZs Sachsenhausen und Buchenwald und der Strafanstalt Bautzen. Die Auflösung dieser Lager wurde erst im Januar 1950 beschlossen, nachdem ein eigenes DDR-Justizwesen etabliert worden war. Von den damals noch knapp 30.000 Internierten (etwa ebensoviele waren in den Jahren zuvor in die Sowjetunion deportiert worden) wurde nur die Hälfte in die Freiheit entlassen. 10.513 Personen, die bereits durch sowjetische Militärgerichte verurteilt worden waren, kamen in den DDR -Strafvollzug, 649 verblieben in sowjetischem Gewahrsam. 3.432 Gefangene wurden zur „Untersuchung ihrer verbrecherischen Tätigkeit und Aburteilung“ dem DDR -Innenministerium übergeben - so der Vorsitzende der Sowjetischen Kontrollkommission in Deutschland, Armeegeneral Tschujkow, in einem Schreiben an Ulbricht. Sie wurden im April 1950 im „Waldheimer Prozeß“ (benannt nach dem Ort des Geschehens Waldheim an der Zschopau) verurteilt. Es handelte sich dabei um summarische Verfahren, bar jeder Rechtsstaatlichkeit. Die meisten Verurteilten wurden Mitte der fünfziger Jahre entlassen, die letzten erst zu Beginn der 60er Jahre.
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