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Gorbatschow stellt sich an die Spitze der sowjetischen Militäraktionen in Litauen

■ Parteigebäude in Vilnius besetzt / Erstmals Truppen des Innenministeriums eingesetzt / Gorbatschow ließ sich vom Präsidialrat auffordern / 'Pravda‘ warnt vor Schwächung des Präsidenten / Estland beschließt Übergang zur Unabhängigkeit /Grüne und Liberale Parteien gegründet

Berlin/Moskau (taz/adn/dpa) - Gorbatschow hat sich am Wochenende an die Spitze der sowjetischen Litauen-Politik gesetzt, nachdem eine Woche lang das Militär im Vordergrund stand. Er trommelte seinen Präsidialrat zusammen, den er eben erst ernannt hatte, und ließ sich auffordern, vom Obersten Sowjet Litauens die Rückgängigmachung gesetzwidriger Maßnahmen - also auch der Unabbhängigkeitserklärung - zu verlangen. In seiner Erklärung stellte der Präsidialrat außerdem fest, die litauische Führung beharre auf Positionen des nationalen Egoismus und handele gegen die grundlegenden Interessen des litauischen Volkes und der gesamten Bevölkerung der Republik.

Noch in der selben Nacht besetzten Truppen des sowjetischen Innenministeriums die litauische Generalstaatsanwaltschaft, das Institut für Parteigeschichte und das größte Verlagshaus der Stadt. Die Besetzung der Anwaltschaft wurde vorgenommen, um die Ernennung eines neuen Generalstaatsanwalts durch die litauische Regierung zu verhindern. Die Innenministeriumstruppen unterstehen dem sowjetischen Innenminister Bakatin und werden jetzt erstmals in Litauen eingesetzt. Bakatin ist Mitglied des Präsidialrates.

Am Samstag wurde dann das Gebäude der selbständigen KP Litauens besetzt. Parteichef Brazauskas und seine Mitarbeiter wurden des Hauses verwiesen. Damit ist die Partei praktisch lahmgelegt.

Gorbatschow begleitete diese Aktionen mit einer scharfen Erklärung, welche den Weg der litauischen Regierung als „Sackgasse“ und ihre Handlungen als „herausfordernd“ und „beleidigend“ charakterisierte. Diese Verhärtung stürzte den litauischen Präsidenten Landsbergis in Verwirrung. Er nannte Gorbatschows Forderungen „extrem barsch“ und äußerte die Bereitschaft, „Gorbatschow zu treffen, wo und wann er es möchte“.

Danach war die Presse an der Reihe: die Sonntagsausgabe der 'Krasnaja Swesda‘ veröffentlichte einen Beitrag der Pressestelle des Verteidigungsministeriums, in dem die angebliche Kampagne der baltischen Republiken gegen den Wehrdienst verurteilt wird. Es dürfe nicht zugelassen werden, daß die Einberufungen zum Wehrdienst sabotiert werden, und Aufwiegler müßten zur Rechenschaft gezogen werden. Ebenfalls in ihrer Sonntagsausgabe erklärte die 'Pravda‘, Präsident Gorbatschow habe es schwer und seine Autorität müsse geachtet werden. „Die Welt schaut auf uns“, schrieb das Blatt und schlußfolgerte, die UdSSR brauche wie nie zuvor die Einheit.

Verteidigungsminister Jasow erklärte dazu, Litauen sei „1940 freiwillig der Sowjetunion beigetreten“ und bilde jetzt einen „Teil der baltischen Militärregion“ der Union. Die Stationierung von Truppen sei daher normal.

Unter dem Eindruck der Moskauer Unnachgiebigkeit geht Estland einen sehr viel vorsichtigeren Weg zur Unabhängigkeit. Der estnische Oberste Sowjet behauptete, Estland sei nie der Union beigetreten und könne also auch nicht seinen Austritt erklären. Um zu klären, wo Estland dann eigentlich hingehört, verabschiedete das Parlament einen Beschluß „Über den staatlichen Status Estlands“, in dem der Beginn der Wiederherstellung der Republik verkündet und eine Übergangsperiode proklamiert wird.

In der Ukraine und Belorußland fanden am Samstag Solidaritätskundgebungen für Litauen statt. Belorußland entschied sich auch, Öl ins Feuer zu gießen und verlangte die Angliederung der litauischen Hauptstadt Vilnius und aller anderen litauischen Gebiete, welche bis 1939 polnisch waren. In Moskau demonstrierten einige hundert Menschen für die litauische Unabhängigkeit.

Währenddessen wurde in Moskau eine Liberal-demokratische Partei gegründet. Nach Angaben der Organisatoren war es der „erste landesweite Kongreß einer nichtkommunistischen Partei in der sowjetischen Geschichte“. Vorsitzender ist der Moskauer Rechtsanwalt Wladimir Zirinowsky. In Leningrad schlossen sich 17 Umweltgruppen aus dem russischen Nordwesten zu einer „Partei der Grünen“ zusammen. Sie betrachten sich als Teil der internationalen Ökologiebewegung.

D.J.

Moskau (adn) - Im ukrainischen Charkow sind etwa 120 Tschernobyl-Opfer in einen Hungerstreik getreten. Es handelt sich um Patienten des Forschungsinstituts für medizinische Radiologie, denen sich erkrankte Einwohner aus Tschernobyl angeschlossen haben. Sie protestieren gegen die „unzureichende medizinische und soziale Betreuung“. Das ukrainische Parlament beschloß unterdessen, den 26. April künftig als „Tag der Tragödie von Tschernobyl“ zu begehen.

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