: Dreieichen oder wie das heißt
■ Jahrelange Verdrängung und Unwissen über das Internierungslager Fünfeichen / Günter Arndt, Überlebender, spricht von 40 bis 50 Toten pro Tag / Sie wollen Entschädigung, stellen aber keine Ansprüche an die SU
Neubrandenburg (taz) - Auf das, was da am vergangenen Wochenende über die Journalisten der 'Freien Erde‘ hereinbrach, waren die bis dahin marktabstinenten und ehemaligen kollektiven Agitatoren und Propagandisten nicht gefaßt. Amerikanisches Fernsehen und die Weltpresse gaben sich die Klinke in die Hand. Information als Ware. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst, egal ob da jemand zu Schaden kommt. Immer draufhalten, Hauptsache, die Tränen kullern, das wollen die Leute. „Was ist denn das da in Dreieichen oder wie das heißt“, fragte jemand. Meine Antwort lautete nur: „Das heißt Fünfeichen.“
Von Neubrandenburg, Stadtzentrum, fährt die Buslinie 6 nach Fünfeichen. Nur wenige Zivilisten kennen diese Linie. Dort ist eine Nachrichteneinheit der NVA stationiert. Das wissen alle Neubrandenburger. Und das andere? Das haben sie verdrängt oder können es nicht wissen, weil sie später geboren oder zugezogen sind. Fünfeichen ist Sperrgebiet seit 1969. Das ist die eine Wahrheit: Fünfeichen war eines der ersten von vierundvierzig Kriegsgefangenenlagern der Nazis auf deutschem Territorium. Hier verstarben 402 Kriegsgefangene westlicher Armeen. Die Zahl der sowjetischen Todesopfer läßt sich nicht genau bestimmen, weil diese nicht einzeln bestattet, sondern in Massengräbern verscharrt wurden. In einem Dokument des Wehrkreises II heißt es: „Im Stalag (Stammlager) Neubrandenburg ist z. Zt. von den 2.019 Russen keiner einsatzfähig. Nach Ablauf der Quarantäne werden Ende Februar, wenn sie bis dahin noch leben, 450 einsatzfähig sein. Von den bisher dem Wehrkreis zugewiesenen rund 74.000 Russen sind bisher 28.000 gestorben.“
Das war das Fünfeichen von 1939 bis 1945. Vergessen! Nicht ganz. Denn zwischen 1958 und 1961 wurde der Lagerfriedhof umgestaltet und ein Ehrenmal errichtet. In der lokalen Presse findet sich darüber keine Notiz. 1969 wird das Gebiet von Fünfeichen Übungsplatz der Armee. Der Friedhof und das Ehrenmal verkommen nach und nach. Sperrgebiet, Betreten verboten. Es wächst Gras über die Vergangenheit, niemand stellt Fragen, warum wird ein Ehrenfriedhof zum Sperrgebiet, die sonst staatlicherseits verordnete Ehrenpflicht vernachlässigt, ja verboten? Die Antwort können wir uns erst jetzt nach den Oktoberereignissen geben. Denn die dunkle Vergangenheit von Fünfeichen reicht weit. Nach 1945 löste der stalinistische den faschistischen Terror ab.
Ende vergangenen Jahres erschien in der Bundesrepublik eine Broschüre, herausgegeben von der Mecklenburgischen Landsmannschaft „Konzentrationslager Fünfeichen 1945 bis 1948“, geschrieben von einem ehemaligen Insassen. Die Mitarbeiter des hiesigen Bezirksmuseums, die schon vorher versucht hatten, Angehörige beziehungsweise ehemalige Insassen des Internierungslagers zu befragen, gingen mit ihrer Forderung nach Aufarbeitung der ganzen Geschichte um Fünfeichen nun an die Öffentlichkeit. Daraufhin bildete sich eine Bürgerinitiative, deren Anliegen es in erster Linie war, den Ehrenfriedhof wiederherzustellen. In der 'Freien Erde‘ erschien eine kurze Notiz über den offenen Brief einer Menschenrechtsorganisation zu ehemaligen Internierungslagern der Sowjetischen Besatzungsmacht an Ministerpräsidenten Modrow im Januar. Erstmalig meldeten sich daraufhin Betroffene. Das Schweigen war gebrochen.
Fünfeichen war nur eins von elf Internierungslagern in der Sowjetischen Besatzungszone. Schätzungsweise 160.000 Menschen haben in diesen Lagern bis 1950 gelitten. Für viele der Inhaftierten stellte sich die Frage, warum. Internierungslager gab es in allen Besatzungszonen. Sie wurden errichtet als Teil der „Sühnemaßnahmen“. In der Kontrolldirektive Nr. 38 „Über die Verhaftung und Bestrafung von Kriegsverbrechern, Nazis und Militaristen, über die Internierung, Kontrolle und Beaufsichtigung der möglicherweise gefährlichen Deutschen“ vom 12. Oktober 1946 wird der zu bestrafende Personenkreis und die zu ahnenden Vergehen aufgelistet. Diese Kontrollratsdirektive nutzte die sowjetische Besatzungsmacht aus, um Unrecht zu legitimieren. In den Internierungslagern neben Wehrmachtsangehörigen und Verantwortlichen des Naziregimes Tausende Unschuldige. Sie wurden niemals verurteilt. Schätzungsweise 50.000 kamen ums Leben. 20.000 bis 30.000 wurden in die UdSSR deportiert.
Das „Sonderlager Nr. 9“, die interne Bezeichnung für Fünfeichen, entstand schon im Juni 1945 und wurde im Oktober 1948 aufgelöst. Die ersten Grabungen lassen jetzt darauf schließen, daß in Fünfeichen einige tausend Lagerinsassen ums Leben kamen. Günter Arndt, Überlebender aus Fünfeichen, spricht von 40 bis 50 Toten pro Tag. Die Leichen wurden wie Langholz auf einen Ackerwagen gestapelt, abgefahren und in etwa vier Kubikmeter großen Gruben verscharrt. „Ich bin der Überzeugung, daß in diesen Lagern zwei von drei der Inhaftierten starben. Aus unserem Dorf sind drei weggekommen. Ich bin übriggeblieben.“ Günter Arndt war zum Zeitpunkt seiner Inhaftierung gerade 17 Jahre. „Man hat uns schlechthin Wehrwolftätigkeit zur Last gelegt. Aber keiner von uns hatte irgendwie eine Aktivität gegen die Besatzungsmacht. Darum wurden wir ja auch in die sogenannten Internierungslager gesteckt und nicht verurteilt. Bei den Verhören hatten wir keinerlei Rechtfertigung. Wer nicht unterschrieben hat, bekam Prügel.“ Die Situation im Lager beschreibt er so:„Kälte. Wir bekamen drei, vier Kohlen und ein bißchen Holz für die große Baracke. Die Eiszapfen hingen an der Decke. Ungeziefer. Wanzen, Läuse - die sind wir kaum losgeworden. Viele haben schrecklichen Ausschlag und Exzeme bekommen. Zählappelle. Manchmal haben wir drei Stunden gestanden. Angstgefühle hatten wir ständig. Gerüchte. Eine Parole nach der anderen, Weihnachten kommt ihr raus, Weihnachten saßen wir immer noch. Informationslosigkeit. Die draußen wußten nichts über uns und wir wußten nichts von ihnen. Hoffnungslosigkeit. Die meisten hatten die Hoffnung aufgegeben, rauszukommen. Hunger. Von der einseitigen Ernährung fielen die Haare und Zähne aus.“
In den Internierungslagern saßen auch Kommunisten und Sozialdemokraten.
Seit 1946 dienten die Lager dazu, auch Politiker aufzunehmen, die in Opposition standen. Nach Auflösung der Lager 1950 kam die Hälfte der Insassen frei. Der Rest ging aufgrund von teils unrechtmäßigen Verurteilungen in den Strafvollzug der DDR über. „Wir wollen Entschädigungen, aber wir stellen keine Ansprüche an die Sowjetunion. Das wäre Unsinn. Ein gegenseitiges Aufrechnen bringt nichts. Erst durch Gorbatschow ist es soweit gekommen, daß wir reden können“ sagt Günter Arndt, der auch Sprecher der Verfolgten des stalinistischen Terrors in Prenzlau ist.
Heike Sommer
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