: Schlußstrich unter die Geschichte?
■ Für die alte Führung in der DDR war der Antisemitismus automatisch mit dem Jahr 1945 abgehakt / Die Auseinandersetzung damit wurde der Bundesrepublik Deutschland als Rechtsnachfolgerin des Dritten Reiches überlassen / Erst nach der „Wende“ traten Rassismus und Antisemitismus erstmals auch öffentlich ins Bewußtsein der Bevölkerung: Hier eine Diskussion darüber in der 'Leipziger Volkszeitung‘ vom 24./25.März 1990, die wir mit Genehmigung des Verlags dokumentieren
„Frankfurter Initiative“: Wir beobachten seit Herbst 1989 in der BRD verstärkt subtile und offene Formen des Antisemitismus. Da gibt es die Tendenz, Juden als Gegner einer deutschen Einheit vorzuführen und dann abzukanzeln. Da herrscht eine ungeheure Sehnsucht nach einem „Schlußstrich unter die Vergangenheit“.
Da häufen sich Fernsehberichte über den Nahen Osten, in denen eine sehr verzerrte Sicht zum Ausdruck kommt, die alle Schuld bei den israelischen Juden und fast ausschließlich Opfer auf arabischer Seite feststellt. Da werden aber auch antisemitische Klischees im Kampf gegen den politischen Kontrahenten eingesetzt, wie jüngst vom 'Spiegel‘, der PDS -Chef Gysi mit geradezu klassischen antisemitischen Formulierungen „würdigte“. Besonders besorgt macht uns das Überschwappen des bundesdeutschen Rechtsradikalismus in die DDR, der Beifall, den er allem Anschein nach in Teilen der DDR-Jugend bekommt.
Wolfgang Brück: Es ist richtig, daß derzeit eine Wiederbelebung des Antisemitismus in der DDR festzustellen ist, beziehungsweise es kommen lange unterdrückte und verschwiegene Bewußtseinsmuster hoch, die latent während der gesamten Zeit seit 1945 vorhanden waren. Ich möchte dabei vier Erscheinungsformen unterscheiden:
1. Sprachmuster - also die Verwendung von Ausdrücken wie „Saujude“, „Schacherjude“ etc., die von Fußballfans bis hin zu jugendlichen Rechtsradikalen üblich geworden sind.
2. Denkmuster - also die Verwendung antisemitischer Klischees wie „jüdischer Krämergeist“, „jüdischer Wucher“ etc.
3. Antisemitische Stimmungen: In Krisenzeiten sind Sündenbockzurechnungen gefragt. Und nachdem rechtsradikale Gruppen aus der BRD offen und teilweise erfolgreich für ihre Ziele werben, kann man davon ausgehen, daß auch gewisse Teile der DDR-Bevölkerung sich für deren antisemitische Interpretationen anfällig erweisen werden.
4. Antisemitismus als Teil von Ideologien. Da spielt einerseits die untergründige Tradierung von NS-Gedankengut eine Rolle. Andererseits kann man aber auch an der Geschichte der DDR ablesen, daß der Stalinismus antisemitische Grundzüge besaß.
Dazu muß man sagen, daß durch antisemitische Aktivitäten Anfang der fünfziger Jahre viele Juden, darunter zahlreiche rückgekehrte Emigranten, aus dem Land vertrieben wurden. Es gab antisemitische Ressentiments auch in der SED, die zum Beispiel dazu führten, daß man einen Jürgen Kuczinsky aus der Politik in die Wissenschaft abschob. Ein Fortleben solcher Haltungen erblicke ich auch darin, daß heute nach der Wende einige Stasi-Leute mit den Reps sympathisieren. Man kann also feststellen, daß es bei vielen, die im alten System an verantwortlicher Stelle saßen, aber auch bei Wissenschaftlern und Journalisten, ein gerüttelt Maß an Verantwortung für den jetzt wieder anwachsenden Antisemitismus gibt.
Kostas Kipuros: Das Defizit an einer sachlichen Aufarbeitung dieses Themas durch die Medien ist unbestritten. Allerdings sehe ich nicht, daß wir Journalisten etwa verantwortlich sind für aktiven, gewalttätigen Antisemitismus. Vielmehr bestand für die DDR das Problem darin, Geschichtsaufarbeitung durch Verschweigen zu verdrängen.
Für die alte Führung war der Antisemitismus als gesellschaftliche Erscheinung automatisch mit dem Jahre 1945 abgehakt. Die Auseinandersetzung damit wurde der BRD als dem Rechtsnachfolger des Dritten Reiches überlassen. Den jetzt in der DDR offensichtlich aufkommenden Antisemitismus sehe ich zum Teil als eine spontane Reaktion auf die Suche nach Sündenböcken für die Lage in der DDR, weniger als ein Ergebnis des Zusammenlebens mit jüdischer Bevölkerung (370 in der DDR) an.
Frankfurter Initiative: Antisemitismus funktioniert auch ohne Juden. Es gibt etwa Untersuchungen in Österreich und in den USA, wonach Regionen ohne jüdische Bevölkerung einen sehr hohen Anteil an Antisemiten haben. Belegt ist auch ein Antisemitismus ohne Juden in Japan.
Wolfgang Brück: Diese Kuriosität kann ich bestätigen. Allerdings muß man für die DDR die Situation vor und nach der Wende differenzieren. Es gab in der Skinhead-Szene (etwa zwei Prozent der DDR-Jugend) ständig antijüdische Parolen, Schmierereien, Friedhofsschändungen. Und bei allen Prozessen, denen ich als Beobachter beigewohnt habe, verneinten die jugendlichen Rechtsbrecher die Frage, ob sie persönlich Juden kennen würden.
Die Taten sind also im Zusammenhang mit gezieltem Tabubruch zu sehen, um ein Höchstmaß an Treffsicherheit zu erzielen. Offensichtlich greifen Menschen in Krisensituationen auf tradierte Muster zurück. Daraus kann man freilich schnell wieder Ideologiebestandteile stilisieren.
Nach der Wende haben wir mit der offenen Propaganda rechter Gruppen wie der Reps eine neue Qualität. Die Reps vertreten zwar noch vorsichtig und in biedermännischer Verkleidung, aber praktisch wirksam einen unverhohlenen Antisemitismus. Wenn deren Massenbasis sich erweitert, dann ist ein systematischer Antisemitismus abzusehen. Ich würde also das ganze Problem nicht verharmlosen, ihm aber auch gegenwärtig keinen erhöhten Stellenwert zuordnen.
Frankfurter Initiative: Der Antisemitismus ist nicht nur eine Sache von Deklassierten und Menschen, die sich durch soziale Krisen bedroht fühlen. Es gibt ihn auch in der Mittel- und Oberschicht. Da wird etwa der tradierte, durch keinen empirischen Beleg gedeckte Mythos gepflegt, die Juden beherrschten das Kreditgewerbe oder die Presse.
Wolfgang Brück: Offensichtlich gehen die einzelnen sozialen Gruppen unterschiedlich damit um. Es hängt mit den Interessenlagen zusammen. Eine Form, Eigenprobleme zu bewältigen, besteht in der Aggressionsabfuhr gegen Minderheiten. Und da sucht man sich gern das schutzloseste Objekt, das gerade zur Verfügung steht. Das kann auch weitgehend anonym sein, etwa der Jude.
Frankfurter Initiative: In der bundesdeutschen Presse und auch in linken sozialen Bewegungen (Friedensbewegung, Feminismus, antiimperialistische Gruppen) gibt es oft einen verdeckten Antisemitismus. Transportmittel davon ist ein übersteigerter Antizionismus. Mehr oder weniger berechtigte Kritik an der Politik der israelischen Regierung wird ausgeweitet auf ein globales antijüdisches Feindbild. Dies führt hin bis zu unappetitlichen Vergleichen von Israel und Nazi-Deutschland. Bei Ihnen in der DDR war der Antizionismus Teil der offiziellen Ideologie. Das bedeutete, daß jede Menschenrechtsverletzung Israels aufs schärfste gegeißelt wurde, während man die oft schlimmeren Menschenrechtsverletzungen der arabischen Länder verschwieg.
Kostas Kipuros: Unsere ganze politische Erziehung neigte in der Tat dazu, eine radikal vereinfachte Sicht zu vermitteln. In unseren Medien wurde Jahrzehnte hinweg Israel prinzipiell und ausschließlich als Aggressor dargestellt, während man über die zum Teil äußerst negative Rolle bestimmter arabischer Staaten innerhalb des Nahostkonfliktes geflissentlich schwieg. Vermutlich war dies neben gewisser Unkenntnis auch ein Ergebnis der vereinfachten Betrachtungsweise, die klischeehaft dem Bösen das Gute gegenüberstellt. Dennoch ist von den Medien meines Erachtens im wesentlichen durchaus zwischen Kritik an der Politik der israelischen Regierung und Antisemitismus unterschieden worden.
Frankfurter Initiative: Es gibt natürlich Juden, die jede Kritik an Israel als antisemitisch empfinden. Aber es gibt viele andere Juden - nicht zuletzt in Israel -, die das Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Shatila 1982 für ein Verbrechen halten, das dem israelischen Politiker Scharon angelastet werden muß. Der Punkt ist die Art und Weise, wie man über Israel schreibt. Wenn man mit Termini wie „Weltjudentum“ operiert, wie jüngst der Bonner Regierungssprecher Klein, dann arbeitet man mit einem antisemitischen Muster.
Wo sehen kritische Intellektuelle und für die Geschichte sensible Menschen in der DDR Möglichkeiten, latentem Antisemitismus zu begegnen?
Wolfgang Brück: Insgesamt fehlt es noch sehr an Sensibilisierung und Problembewußtsein. Da wurde viel verdrängt und tabuisiert. Das muß verändert werden.
Kostas Kipuros: Es wäre gut, wenn es viele Begegnungen zwischen DDR-Bürgern und Israelis gäbe, wenn viele Gespräche zwischen Juden und Nichtjuden auch hierzulande möglich wären. Die Überwindung der Unkenntnis des vermeintlich Fremden ist eine wichtige, wenngleich nicht allein ausreichende Voraussetzung für den Abbau innerer Grenzen. In einer Zeit, da der Antisemitismus wächst, muß man jedoch auch politisch dagegenhalten.
Wie sehr uns dies gelingt, ist auch davon abhängig, ob die DDR-Bevölkerung überhaupt Sensibilität für andere Völker und Kulturen entwickelt, ob die Menschen in der Lage sind, so sensibel auf die Probleme von Minderheiten und „Fremden“ zu reagieren, wie sie es gegenüber ihren eigenen Schwierigkeiten längst tun.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen